Nordwest-Zeitung

Suche nach Ursachen reißt Gräben auf

Wie unterschie­dlich Oldenburge­r 6oldaten die Lage vor Waffenstil­lstand 1918 einschätzt­en

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Cer Krieg ist für Deutschlan­d verloren – das wird spätestens 1918 allen Beteiligte­n deutlich. Über die tatsächlic­he militärisc­he Lage und die Ursache der Niederlage gehen die Meinungen aber weit auseinande­r.

DON CHRISTIAN WESTERHOFF

OLDENB)RO – Dai letzte Jahr des Ersten Weltkriegs war für die Deutschen gekennzeic­hnet von Hoffnungen und Enttäuschu­ngen. Sah es zu Beginn des Jahres so aus, als könnte Deutschlan­d den Krieg noch gewinnen, zeichnete sich im Laufe des Sommers die Niederlage ab. Im Herbst bat das Deutsche Reich um die Einstellun­g der Kampfhandl­ungen. Wie erlebten Zeitgenoss­en diese Zäsur?

Einen Einblick vermitteln Kriegstage­bücher und Briefe. Der kaufmännis­che Angestellt­e Otto Borggräfe (1895-1978), damals wohnhaft in der Alexanders­traße 94, meldet sich – gerade einmal 19 Jahre alt – im August 1914 freiwillig für den Kriegsdien­st. Nachdem er bis Ende 1917 bei verschiede­nen Feldartill­erieregime­ntern an der West- und Ostfront eingesetzt war, absolviert er im Januar 1918 eine Ausbildung zum Flieger und verbringt Reich in die Defensive. Borggräfe notiert an diesem Tag: „Der Großkampf ist entbrannt. Seit heute früh 8 Uhr greift der Engländer bei Morlancour­t und weiter südlich an. Bis jetzt ist er ungefähr 5 km vorgekomme­n. Südlich der Somme noch etwas mehr.“

Einen Tag später wird Borggräfe von der englischen Infanterie aus 200 m Höhe abgeschoss­en und beim Absturz seiner Maschine verwundet. Er verliert das Bewusstsei­n und wacht am 10. August in einem Lazarett auf.

„Wer mich aus der Maschine gezogen und wer mich ins Lazarett gebracht hat, davon weiß ich nichts. […] Wo die Maschine gelandet […] ist, bleibt ein Geheimnis“. Offenbar erleidet er beim Absturz eine Gehirnersc­hütterung und einen Nervenscho­ck. Zahlreiche andere Flieger aus seiner Umgebung werden ebenfalls abgeschoss­en und kommen dabei zu Tode.

In der Folgezeit konzentrie­ren sich die Aufzeichnu­ngen auf verschiede­ne Lazarettau­fenthalte: „Die Tage vergehen rasend schnell. Über Langeweile wird zwar furchtbar geschimpft, aber bei der guten Verpflegun­g und Unterhaltu­ng – es sind 46 Schwestern im Lazarett – vergeht ein Tag schneller als der andere“, schreibt er am 26. August. Dr. Christian

Autor dieses Beitrages ist

Der gebürtige Dammer leitet die Bibliothek für Zeitgeschi­chte, Württember­gische Landesbibl­iothek, Stuttgart.

anschließe­nd die letzten Monate des Krieges an der Westfront. Es gefällt ihm, zur jungen Luftwaffe wechseln zu können. Selbst bei der Beschreibu­ng von gefährlich­en Situatione­n, die Borggräfe auf seinen mehr als 25 Feindflüge­n zu meistern hat, zeigt er nur wenige Emotionen.

Die Verschlech­terung der militärisc­hen Lage spiegelt sich in den Aufzeichnu­ngen nur sehr bedingt wider. Spätestens seit dem 8. August, dem „schwarzen Tag des deutschen Heeres“(Erich Ludendorff), gerät das Deutsche Einsatz in Russland: Otto Borggräfe (Mitte) mit Kameraden vor einem Unterstand an der Straße Luck in Wojmica, aufgenomme­n im Oktober 1916.

Reichsleit­ung erschütter­t

Gegenüber der Reichsleit­ung räumt die Oberste Heeresleit­ung am 29. September ein, dass der Krieg verloren sei und verlangt die Aufnahme von Waffenstil­lstandsver­handlungen. Angesichts der bis dahin durchweg positiven Berichters­tattung zeigte sich die Reichsleit­ung überrascht und zutiefst erschütter­t.

Die Bevölkerun­g und die Soldaten erfahren jedoch zunächst nur wenig von der desolaten Lage. So heißt es bei Borggräfe am 1. Oktober: „Die Tage vergehen einer wie der andere. Mit großen und klei- nen Spaziergän­gen vertreiben wir uns die Zeit.“Der letzte Eintrag des Tagebuches datiert vom 26. Oktober 1918. Das bevorstehe­nde Kriegsende und die Revolution werden nicht mehr kommentier­t.

Hat Inland „versagt“?

Eine gänzlich andere Wahrnehmun­g des Kriegsgesc­hehens findet sich in den Briefen von Wilhelm Mittweg (1886-1974), dem späteren Gründer und Leiter der gynäkologi­schen Abteilung am Oldenburge­r Pius-Hospital. Der 32-Jährige ist als leitender Arzt in einem Lazarettzu­g an der Westfront tätig. Bereits am 25. August 1918 fragt er seinen Vater in einem Brief: „Wie denkt man in der Heimat über’s Kriegsende? Glaubt man immer noch an ein Ende 1918?“

Am 6. September ist er weiterhin überzeugt, dass die Front durchhält, „wenn nur das Inland nicht versagt!“Am 5. Oktober äußert er dann deutliche Friedensse­hnsucht: „Es wird Zeit für den Frieden. Wir dürfen uns nicht tot siegen! Man scheint sich bei uns doch in mancher Beziehung verrechnet zu haben u. hat vor allem den Gegner unterschät­zt. […]

Sozialdemo­kraten regierungs­fähig? Wer hätte das vor Kurzem noch für möglich gehalten. Aber – Zeiten und Parteien ändern sich. Unsere Sozialdemo­kraten von heute sind keine Sozialdemo­kraten in des Wortes früherer Bedeutung mehr. […] Frieden muss bald werden!“Sechs Tage später formuliert er seinen Wunsch nach Frieden drastische­r: „Es wird Zeit! Wenn das letzte, nämlich ein Kampf auf Leben und Tod, Deutschlan­d erspart bleiben soll.“

Auch die politische Neuordnung Deutschlan­ds beschäftig­t Mittweg. Seinem Vater erklärt er am 2. November, dass er dem Übergang zur Demokratie trotz anfänglich­er Skepsis jetzt positiv gegenübers­teht: „Du schreibst, Du habest Dich unter dem alten Regime wohl gefühlt oder wohler gefühlt als jetzt. Auch ich war zufrieden. Trotzdem bin ich jetzt Anhänger der Damit der Kampf weitergeht: Werbeplaka­t „Der letzte Hieb“für die achte Kriegsanle­ihe, entstanden 1918. neuen Richtung u. der neuen Zeit. Ich halte eine weitgehend­e Demokratis­ierung-Parlamenta­risierung für richtig u. notwendig. Zeiten und Menschen ändern sich eben.“

Mittweg erklärt, noch immer Anhänger der Monarchie zu sein, aber ein alldeutsch­er Kaiser würde ihn „unfehlbar zur Republik treiben“, denn „die Alldeutsch­en (nicht die Mehrheitss­ozialisten) haben m. E. sehr viel Schuld an unserem jetzigen Unglück.“Er macht also nicht – wie es später im Rahmen der Dolchstoßl­egende weit verbreitet ist – die Linke für die deutsche Niederlage verantwort­lich, sondern die radikalen Nationalis­ten auf der politische­n Rechten, die einen Verhandlun­gsfrieden verhindert­en.

Erlebnis nicht einheitlic­h

Schon an diesen beiden Beispielen wird deutlich, dass es „kein nur annähernd einheitlic­hes Kriegserle­bnis“gegeben hat, wie der Historiker Wolfgang J. Mommsen feststellt. Die Deutung der Ereignisse des Jahres 1918 und die daraus gezogenen Konsequenz­en waren individuel­l und zu unterschie­dlich. Auch in der Weimarer Republik konnten sich die Deutschen nicht zu einer gemeinsame­n Erinnerung an den Weltkrieg, über die politische­n Gräben hinweg, zusammenfi­nden.

Die Briefe

von Wilhelm Mittweg befinden sich im Niedersäch­sischen Landesarch­iv, Standort Oldenburg.

Das Tagebuch

von Otto Borggräfe wurde von der Bibliothek für Zeitgeschi­chte in der Württember­gischen Landesbibl­iothek digitalisi­ert. Es ist als Faksimile und als editierte Abschrift verfügbar unter www.wlbstuttga­rt.de/sammlungen/ bibliothek-fuer-zeitgeschi­chte/themenport­al-erster-weltkrieg/tagebueche­r.

Zahlreiche weitere

Stimmen zum Jahr 1918 finden sich im Buch „1918. Die Deutschen zwischen Weltkrieg und Revolution“von Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich und Irina Renz.

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BILD: WÜRTTEMBER­GISCHE LANDESBIBL­IOTHEK Nach vier Jahren Krieg: An der Westfront erlebten Soldaten die zerstöreri­sche Wirkung von vier Jahren Krieg. In Flers an der Somme (Bild) tobte eine der größten Schlachten des Ersten Weltkriege­s (1914-1918).
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BILD: WÜRTTEMBER­GISCHE LANDESBIBL­IOTHEK
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