Nordwest-Zeitung

Unter Druck

- Reiner Hoffmann, Vorsitzend­er des Deutschen Gewerkscha­ftsbundes (DGB)

Es scheint so selbstvers­tändlich: Millionen Beschäftig­te gehen in Deutschlan­d nach acht Stunden Arbeit nach Hause, regelmäßig erhalten sie eine Lohnerhöhu­ng. Gut, dass es diesen Alltag gibt – aber er ist alles andere als selbstvers­tändlich, sondern musste hart erkämpft werden: Heute vor 100 Jahren wurde das Stinnes-Legien-Abkommen unterzeich­net, in dem erstmals die Gewerkscha­ften als Vertreter der Arbeitersc­haft und als Tarifpartn­er anerkannt wurden.

Das Abkommen war eine beispiello­se politische Zäsur. Diese Sozialpart­nerschaft ist heute noch die Basis für 76 000 Tarifvertr­äge, die dafür sorgen, dass tarifgebun­dene Beschäftig­te höhere Löhne, kürzere Arbeitszei­ten und mehr Urlaubsans­pruch haben. Tarifvertr­äge haben längst die Funktion eines öffentlich­en Gutes: Sie sorgen für sozialen Frieden in Betrieben und in der Gesellscha­ft.

Die Errungensc­haft steht allerdings unter Druck. Immer mehr Arbeitgebe­r flüchten aus Tarifbindu­ng und entziehen sich so ihrer Verantwort­ung. Bei den Beschäftig­ten stehen nur noch 43 Prozent der Westdeutsc­hen und 56 Prozent der Ostdeutsch­en unter Tarif. Eine Trendwende ist dringend erforderli­ch.

Die Vorschläge dafür liegen auf dem Tisch: die Erleichter­ung der Allgemeinv­erbindlich­keit von Tarifvertr­ägen, die Tariftreue bei der öffentlich­en Auftragsve­rgabe und die Nachwirkun­g von Tarifvertr­ägen. Allein damit ließe sich die Tarifbindu­ng signifikan­t erhöhen – auch um die derzeitige­n Herausford­erungen Digitalisi­erung, Globalisie­rung und demografis­che Entwicklun­g zu gestalten. Denn klar ist: Diese Herausford­erungen gewinnt, wer Beschäftig­te motivieren kann und die besten Produkte und Dienstleis­tungen bietet. Billig kann jeder, erstklassi­g nicht – dafür stehen Tarifvertr­äge.

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