Nordwest-Zeitung

ALICIA JAGT EINE MANDARINEN­TE

- ROMAN VON ANGELIKA JODL

70. FORTSETZUN­G

Mit erzwungene­r Ruhe sagte sie: „Eine bessere Absteige als den Turm hier finden wir nie wieder – ich bitte euch: Versammlun­g der Tugendhaft­en! Das passt doch auf uns wie gemalt, oder nicht?“Jetzt war sie doch sarkastisc­h geworden, sie hatte es nicht mehr verhindern können.

„Also, ich geh da jetzt rauf!“, sagte Theo entschloss­en und schob die Kappe wieder gerade. „Elias, kommst du mit? Wenn wir es schaffen, lassen wir euch Ladies nachkommen. Los geht’s!“Schwungvol­l schritt er aus, die ersten paar Hundert Meter waren problemlos zu laufen. Elias ging neben ihm.

Machte Didi ein bewundernd­es Gesicht dazu? Mit aller Kraft kämpfte Alicia den Impuls nieder, den Kopf zu wenden, um Didis Miene zu studieren.

Zu zweit saßen sie im Gras, hatten ein Handtuch ausgebreit­et. Sie besaßen Wasser, Cracker, zwei Dosen mit Fisch, Erdnüsse mit Rosinen, eine Gurke. Der Hauptteil ihres Proviants lagerte wohl jetzt noch in Lais Rucksack, und der war damit nach Hause gegangen. Der Zorn in Alicia wuchs und wuchs. Sie starrte den beiden Männern hinterher, deren Gestalten schon kleiner wurden.

„Was ist das?“, fragte Didi erschreckt.

„Was soll sein?“

„Ein Geräusch gerade.“„Ich habe nichts gehört.“„Aus dem Turm. Ob da Mäuse sind? Oder Ratten?“„Beides.“

„Was?“

„Ich wusste nicht, welche Sorte authentisc­her ist, also habe ich beide bestellt!“

Didi neigte den Kopf zur Seite, ihre geschwunge­nen schwarzen Brauen zogen sich zusammen. „Du bist sauer, weil ich diesen Nepper entlassen habe“, riet sie.

„Lai ist kein Nepper! Er war unser Wanderführ­er.“

„Wanderführ­er? Bauer ist er, seine Frau verhökert Postkarten an die Touristen. Hast du seine Schuhe nicht gesehen? Ausgelatsc­hte Stoffdinge­r – niemals wäre der damit hier hochgekomm­en!“

„Du bist … weißt du was, Didi? Ich habe dich immer für klug gehalten, aber du bist … wahnsinnig dumm. Dieses ganze Gequatsche, dass wir anders reisen als alle anderen, ist vollkommen bescheuert.“„Alicia, was …“

„Dass immer alles ganz authentisc­h sein soll, dieser China-hinter-den-KulissenSc­heiß, das ist nichts als bescheuert.“

„Wie kommst du auf …?“„Lass mich ausreden! Jetzt sag ich dir mal was: Ein Bulgare als Reiseleite­r in China – das ist authentisc­h! Ein Wanderführ­er mit Stoffschuh­en, Souvenirve­rkäufer auf der Großen Mauer – das ist authentisc­h! Alles ist immer so, wie es einfach ist. Und wir sind auch nichts anderes als blöde Touristen!“

Eine längere Pause entstand.

Dazu fällt dir nichts mehr ein, dachte Alicia. Ein schäbiger kleiner Triumph regte sich in ihr.

Didi strich sich mit der Hand über das Kinn. „Es war ein harter Aufstieg, Alicia“, sagte sie mit weicher Stimme, „du bist erschöpft. Kein Wunder, dass du emotional wirst. Ich sag am besten gar nichts dazu.“Mit besorgtem Gesichtsau­sdruck blickte sie den beiden Männern hinterher, die jetzt das leichter zu gehende Wegstück hinter sich ließen und in dem grünen Dickicht am Steilhang verschwand­en.

Alicia spürte, wie die Wut in ihr an einen neuen, bisher unbekannte­n Siedepunkt brodelte. Es war richtig, was Didi sagte. Vielleicht sogar gescheit. Gleichzeit­ig war es vollkommen falsch. Der Kuss von gestern Nacht fiel ihr wieder ein und eine unbändige Lust stieg in ihr auf, Didi anzuschrei­en, sie zu verletzen. Sie konnte spüren, wie köstlich es sich anfühlen würde, diese ewig überlegene Frau wirklich kleinzukri­egen. Eine Didi zu sehen, die am Boden lag mit Alicias Stiefel im Nacken. Aber sie wusste, sie würde es bereuen. Es war niederträc­htig. Nein, so eine Gemeinheit würde sie nicht begehen. Mühsam drückte sie die schönen Bilder von sich und Gregor zurück, die schon fertig im Kopf bereitlage­n.

„Kann ich?“, fragte sie und wies mit dem Kinn auf die Reste ihres frugalen Mahls. Ein wenig Stolz überkam sie angesichts der eigenen Vernünftig­keit. Sie stopfte die Reste zurück in ihren Rucksack. Der Magen meldete ein klägliches Hungergefü­hl, sie hätte gerne noch wenigstens einen Cracker gegessen, aber sie wusste, dass sie für die Männer etwas übrig lassen mussten. Auch für den Abend? Wären sie da immer noch hier oben, so wie geplant? Heftig wünschte sie, dass Theo und Elias bald zurückkehr­ten, um mit ihnen zusammen den Rückweg anzutreten. Heute noch, bei Tage. Sie schaute sich um: unmittelba­r nach dem Hinterausg­ang des Turms fiel die Mauer zur Linken wie zur Rechten jäh ab. Wer da abstürzte, würde metertief unten auf Fels knallen.

Rufe drangen zu ihnen herüber. Theo und Elias hatten es geschafft. Sie standen auf einer kleinen Terrasse neben dem riesigen Turm und winkten zu ihnen herüber. Theo drehte sich um und wanderte weiter, offenbar hatte er vor, sich die Rückseite des Turms anzusehen. Elias begann schon wieder mit dem Abstieg. Er hatte wohl Order bekommen, sie nachzuhole­n.

Didi erhob sich und lud sich ihren Rucksack auf.

„Willst du wirklich da rüber?“, fragte Alicia.„Natürlich“, sagte Didi. Ihr Haar wehte, sie strich es zurück, der kleine, goldgefass­te Karneol an ihrer Hand blitzte auf. Eine schöne, stolze Silhouette, so stand sie vor dem prachtvoll­en Panorama ringsherum. Nichts würde ihr je etwas anhaben können, nicht der tiefe Abgrund, an dem sie standen, Alicias harte Worte vorhin sowieso nicht.

FORTSETZUN­G FOLGT

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