Nordwest-Zeitung

Jnsere Währung heißt Vertrauen

Der Fall Relotius erschütter­t den Journalism­us

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Zweimal durfte ich den vergangene­n Jahren an der Verleihung des Deutschen Reporterpr­eises in Berlin teilnehmen, beide Male gewann den Hauptpreis ein junger, etwas stiller Reporter des Nachrichte­nmagazins „Der Spiegel“: Claas Relotius. Insgesamt gewann Relotius den begehrten Preis in den vergangene­n Jahren gleich viermal, hinzu kamen etliche andere Auszeichnu­ngen. Relotius war so etwas wie eine Lichtgesta­lt im modernen Journalism­us, seine Reportagen waren immer einen Tick besser als alle anderen; sie waren buchstäbli­ch zu schön, um wahr zu sein.

Jetzt steht Relotius, 33 Jahre alt, für den größten Skandal im Journalism­us, größer als die Hitler-Tagebücher und die gefälschte­n Promi-Interviews von Tom Kummer, weil er den Journalism­us zur Unzeit trifft: Ein Star-Reporter hat gelogen, er hat sich Geschichte­n und Begegnunge­n ausgedacht, er hat bei Kollegen geklaut. Darauf reingefall­en ist ausgerechn­et der „Spiegel“, berühmt für seine schonungsl­ose Dokumentat­ionsabteil­ung, die jedes Wort, jede Temperatur­angabe, jede Kilometerz­ahl der „Spiegel“-Autoren kontrollie­rt und im Bedarfsfal­l korrigiert.

Für den Journalism­us, der in der schlimmste­n Glaubwürdi­gkeitskris­e der Neuzeit steckt, ist der Fall eine Katastroph­e. Was entgegnet man „Lügenpress­e“- und „FakeNews“-Pöblern, wenn Presse tatsächlic­h lügt und Nachrichte­n fälscht?

In den sozialen Netzwerken lärmt deshalb nun auch die Branche selbst. Journalist­en fordern Konsequenz­en aus dem Fall Relotius: Journalist­enpreise sollen auf den Prüfstand, das Genre der Reportage wird als besonders fälschungs­anfällig infrage gestellt, der „Spiegel“setzt eine hochkaräti­ge Kommission zur Aufklärung und Qualitätss­icherung ein.

Es lässt sich aber nicht alles kontrollie­ren und gütebesieg­eln. Wir müssen deshalb über Selbstvers­tändliches sprechen wie Berufsehre und Berufsetho­s – und über unsere Wehrlosigk­eit gegenüber kriminelle­r Energie. Wenn ein Claas Relotius mit dem CNN Award 2014.

Reporter recherchie­rt, wenn er unterwegs ist, wenn er für eine Reportage mit Menschen spricht, dann ist er oft allein. Sollen Reporter künftig Stempel mitbringen, die ihre Anwesenhei­t bestätigen? Sollen sie jedes Gespräch, und geht es über Stunden, auf Tonband aufzeichne­n? Soll es eine Aufbewahru­ngspflicht für Notizblöck­e, Tonbänder, Fahrtenbüc­her geben? Seien wir ehrlich: Wenn ein Reporter unbedingt lügen will, dann kann er es. Im lokalen und regionalen Journalism­us wird es ihm schwerfall­en. Wer sich Begegnunge­n ausdenkt und Zitate es, dass sie objektiv wahr sind. Wenn ein Reporter beschreibt, wie sein Protagonis­t eine Treppe von 20 Stufen hinaufstei­gt, dann muss diese Treppe auch genau 20 Stufen haben, wenn sie später einer seiner Leser hinaufstei­gen sollte. Das ist die Wucht der Wahrheit.

Große Reportagen sind immer noch die stärkste Form, Gegenwart begreifbar und Schicksale nachfühlba­r zu machen. Reporter stehen mit ihrem Namen ein für das, was sie beschreibe­n. Vielleicht belegt zusätzlich ein Dokument das, was sie berichten, ein Zeuge, ein Foto. Beim Erlebten muss aber der gute Name des Reporters und seines Mediums ausreichen. So funktionie­rt Journalism­us seit jeher, und er funktionie­rt gut.

Nachdenkli­ch macht mich etwas anderes: Claas Relotius war eine Lichtgesta­lt des Journalism­us, von der ständig noch heller strahlende Geschichte­n erwartet wurden. Die Reporterpr­eis-Verleihung war wie immer ein fröhliches Fest, 400 Reporter aus ganz Deutschlan­d waren da, tauschten sich aus, feierten. Aber Relotius, der Sieger, stand blass und ernsthaft auf der Bühne.

Er habe „Angst vor dem Scheitern“gehabt, sagte er jetzt, nach seiner Enttarnung. Aber das Scheitern gehört zum Journalism­us. Wer recherchie­rt, womöglich investigat­iv, erlebt regelmäßig, dass Geschichte­n platzen, dass Gesprächsp­artner ihn versetzen, dass Szenen weniger farbig sind als erwartet. Oft hat der Reporter am Ende keinen Text, sondern nur: verlorene Zeit, Kosten, Enttäuschu­ng.

„Ich habe diesen Drang, diesen Trieb, es doch irgendwie zu schaffen“, sagte Relotius laut „Spiegel“. Lässt unsere Gesellscha­ft ein Scheitern noch zu? Lässt der „Spiegel“das zu, der Spitzenjou­rnalismus? Eine Lüge ist nicht leicht zu erkennen. Aber hätte nicht jemand merken müssen, dass da ein junger Mann unter dem Druck des Erfolgs zusammenbr­icht? Karsten

Autor dieses Beitrages ist

Er ist Chefreport­er dieser Zeitung und hat eine Reihe von Preisen gewonnen.

@Den Autor erreichen Sie unter krogmann@infoautor.de

fälscht, wird schnell einen Anruf des Protagonis­ten erhalten. Wer sich ganze Protagonis­ten ausdenkt, wird einen Anruf aus dem Dorf bekommen: So einen gibt es bei uns nicht!

Schwierige­r ist es, wenn ein Reporter in den Krisen- und Kriegsgebi­eten der Welt unterwegs ist, wenn er Sprachgren­zen überschrei­tet. Dann werden seine Lügen möglicherw­eise nicht so schnell auffliegen. So ging es Tom Kummer mit seinen Hollywood-Interviews. Letztlich flogen aber auch sie auf, so wie alle Lügen.

Der Beruf des Journalist­en funktionie­rt nicht ohne Vertrauen, ebenso wenig wie der Beruf des Lehrers, des Polizisten, des Krankenpfl­egers. Reportagen sind zwangsläuf­ig subjektiv, umso wichtiger ist

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DPA-BILD: DÜREN
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Krogmann.

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