Ich gehe das eigentlich ganz entspannt an“
Franz Müntefering, ehemaliger SPD-Vorsitzender, über das Älterwerden und den demografischen Wandel
FRAGE: Herr Müntefering, Sie haben mit 34 Jahren ein 5uch übers Altwerden mit dem 6itel „7nterwegs“geschrieben. 8ohin sind Sie unterwegs9 MÜNTEFERING: Unterwegs durchs Leben, und zwar länger als Generationen vor uns. Die Lebenserwartung steigt. Wir erleben einen historischen demografischen Wandel. Das ist eine gewaltige Veränderung, die für viele mehr Lebensqualität bis ins hohe Alter bedeutet. Darüber müssen wir reden.
FRAGE: :hr 5uch über das Alter wirkt voller Zuversicht. Es gibt aber viele ältere Menschen, die weniger o;timistisch sind und unter Altersarmut leiden oder sie fürchten. 8as muss geschehen9 MÜNTEFERING: Hier ist der Staat gefordert, die sozialen Sicherungssysteme zu verbessern und zukunftssicher zu machen. Aber auch jeder Einzelne ist gefragt und kann etwas tun. Vor allem müssen die Kommunen in Deutschland gestärkt werden. Je älter man wird, desto kleiner werden die Lebensräume. Dann braucht man alle Angebote und notwendigen Dienstleistungen in der Nähe, die gesamte Daseinsfürsorge muss garantiert werden. Wir brauchen auch jenseits der Städte eine bessere ärztliche Versorgung und Pflege. Mobilität und Öffentlicher Nahverkehr müssen verbessert werden. Hier ist die Regierung mit ihrer Kommission für Gleichwertige Lebensverhältnisse gefordert. FRAGE: Die Digitalisierung bringt <hancen und Risiken mit sich. Alte Menschen k=nnen ;er :nternet einkaufen. Doch es droht auch mehr Einsamkeit>
MÜNTEFERING: Ja, das ist ein Riesenproblem. Es gibt immer mehr Alte, die allein sind. Daraus kann Einsamkeit entstehen. Sich Lebensmittel liefern zu lassen, ist kein Ersatz für den Einkauf im Laden. Einkaufen ist eine Kultur. Besser auf Rädern zum Essen als Essen auf Rädern! Menschen sollten miteinander essen und sprechen. Das ist eine Kultur, die auch in den Familien erhalten werden sollte. FRAGE: 7nion und SPD streiten über die Einführung einer Grundrente. 8as s;richt dagegen, die 5edürftigkeit der 5ezieher zu ;rüfen9 MÜNTEFERING: Die Einführung der Grundrente ist richtig und ein überfälliger Schritt. Aber es muss auch nach der Bedürftigkeit gehen. Wir haben kein Geld zu verschenken. Das gilt für die Grundsicherung und sollte auch für die Grundrente gelten. Es ist falsch, bestimmte Punkte für nicht verhandelbar zu erklären. So erreicht man keine Kompromisse. Das muss jetzt gemacht und eine Lösung gefunden werden. Sonst gibt es große Enttäuschungen. Das gilt auch für die Konzertierte Aktion Pflege. Mitte des Jahres soll es Ergebnisse geben. Diejenigen, die Angehörige zuhause pflegen, müssen dafür etwa bei der Rente besser gestellt werden. FRAGE: Muss angesichts der steigenden Lebenserwartung nicht auch das Renteneintrittsalter erh=ht werden9 8ird es in Zukunft die Rente erst mit 3? geben9 MÜNTEFERING: Nein. Wir haben seit dem Jahr 2000 inzwischen das faktische Renteneintrittsalter um fast fünf Jahre erhöht. Damals lag es noch bei 58 Jahren, heute sind wir bei etwa 63 Jahren. Wir sind der Rente mit 67 schon deutlich näher gekommen. Männer und Frauen dürfen nicht mehr unterschiedlich bezahlt werden. Und wir brauchen vernünftige Bezahlung und einen anständigen Mindestlohn von 12 Euro.
FRAGE: Sie haben :hrem 5uch ein Zitat von Hannah Arendt vorangestellt, Politik sei angewandte Liebe zum Leben. @ermissen Sie das in der heutigen Politik9 MÜNTEFERING: Wir reden immer sehr abstrakt über Politik. Schauen wir ins Grundgesetz, da sind die ersten 1M Artikel den Menschen gewidmet. Erst dann kommt die Politik. Wir reden immer, als ob Politik das Eigentliche und Entscheidende sei. Aber das Wichtigste sind die Menschen. Solidarität zum Beispiel kann der Staat nicht erzwingen. Eine solidarische Gesellschaft kann der Staat nicht verordnen, die muss von den Menschen kommen. Die Sache mit der Gerechtigkeit ist die zentrale Aufgabe des Staates. Solidarität und Freiheit kommen vom Menschen. Ein Beispiel: Hospiz – da kümmern sich Tausende von Ehrenamtlichen um sterbende Menschen. Das können Sie nicht verordnen. Politik ist wichtig, aber sie ist nicht alles.
FRAGE: Haben Sie Angst vor dem 6od9 8ie soll man das Altwerden angehen9 MÜNTEFERING: Man braucht Mut zum Leben. Ich gehe das eigentlich ganz entspannt an. Ich weiß nicht, ob ich das durchhalten werde bis zum Schluss. Ich habe das Sterben zwei Mal ganz persönlich und nah erlebt: bei meiner Mutter und bei meiner Frau. Das Sterben ist ein Teil des Lebens. Nicht der Tod, der liegt dahinter. Die meisten Menschen sterben normal. Dieser eine Mensch ist erschöpft und kann nicht mehr. Und irgendwann weiß er das auch. Dann lebt er auch damit. Und stirbt damit. Manchmal sind die, die am Bett stehen, aufgewühlter als die, die gehen. Ich möchte den Weg sehenden Auges gehen. Ob ich das durchhalten werdeN? Ich weiß es nicht! Ich habe meinen Teil dafür getan, Vernunft reinzubringen.