Nordwest-Zeitung

Ich gehe das eigentlich ganz entspannt an“

Franz Münteferin­g, ehemaliger SPD-Vorsitzend­er, über das Älterwerde­n und den demografis­chen Wandel

- VON ANDREAS HERHOLZ, BÜRO BERLIN

FRAGE: Herr Münteferin­g, Sie haben mit 34 Jahren ein 5uch übers Altwerden mit dem 6itel „7nterwegs“geschriebe­n. 8ohin sind Sie unterwegs9 MÜNTEFERIN­G: Unterwegs durchs Leben, und zwar länger als Generation­en vor uns. Die Lebenserwa­rtung steigt. Wir erleben einen historisch­en demografis­chen Wandel. Das ist eine gewaltige Veränderun­g, die für viele mehr Lebensqual­ität bis ins hohe Alter bedeutet. Darüber müssen wir reden.

FRAGE: :hr 5uch über das Alter wirkt voller Zuversicht. Es gibt aber viele ältere Menschen, die weniger o;timistisch sind und unter Altersarmu­t leiden oder sie fürchten. 8as muss geschehen9 MÜNTEFERIN­G: Hier ist der Staat gefordert, die sozialen Sicherungs­systeme zu verbessern und zukunftssi­cher zu machen. Aber auch jeder Einzelne ist gefragt und kann etwas tun. Vor allem müssen die Kommunen in Deutschlan­d gestärkt werden. Je älter man wird, desto kleiner werden die Lebensräum­e. Dann braucht man alle Angebote und notwendige­n Dienstleis­tungen in der Nähe, die gesamte Daseinsfür­sorge muss garantiert werden. Wir brauchen auch jenseits der Städte eine bessere ärztliche Versorgung und Pflege. Mobilität und Öffentlich­er Nahverkehr müssen verbessert werden. Hier ist die Regierung mit ihrer Kommission für Gleichwert­ige Lebensverh­ältnisse gefordert. FRAGE: Die Digitalisi­erung bringt <hancen und Risiken mit sich. Alte Menschen k=nnen ;er :nternet einkaufen. Doch es droht auch mehr Einsamkeit>

MÜNTEFERIN­G: Ja, das ist ein Riesenprob­lem. Es gibt immer mehr Alte, die allein sind. Daraus kann Einsamkeit entstehen. Sich Lebensmitt­el liefern zu lassen, ist kein Ersatz für den Einkauf im Laden. Einkaufen ist eine Kultur. Besser auf Rädern zum Essen als Essen auf Rädern! Menschen sollten miteinande­r essen und sprechen. Das ist eine Kultur, die auch in den Familien erhalten werden sollte. FRAGE: 7nion und SPD streiten über die Einführung einer Grundrente. 8as s;richt dagegen, die 5edürftigk­eit der 5ezieher zu ;rüfen9 MÜNTEFERIN­G: Die Einführung der Grundrente ist richtig und ein überfällig­er Schritt. Aber es muss auch nach der Bedürftigk­eit gehen. Wir haben kein Geld zu verschenke­n. Das gilt für die Grundsiche­rung und sollte auch für die Grundrente gelten. Es ist falsch, bestimmte Punkte für nicht verhandelb­ar zu erklären. So erreicht man keine Kompromiss­e. Das muss jetzt gemacht und eine Lösung gefunden werden. Sonst gibt es große Enttäuschu­ngen. Das gilt auch für die Konzertier­te Aktion Pflege. Mitte des Jahres soll es Ergebnisse geben. Diejenigen, die Angehörige zuhause pflegen, müssen dafür etwa bei der Rente besser gestellt werden. FRAGE: Muss angesichts der steigenden Lebenserwa­rtung nicht auch das Renteneint­rittsalter erh=ht werden9 8ird es in Zukunft die Rente erst mit 3? geben9 MÜNTEFERIN­G: Nein. Wir haben seit dem Jahr 2000 inzwischen das faktische Renteneint­rittsalter um fast fünf Jahre erhöht. Damals lag es noch bei 58 Jahren, heute sind wir bei etwa 63 Jahren. Wir sind der Rente mit 67 schon deutlich näher gekommen. Männer und Frauen dürfen nicht mehr unterschie­dlich bezahlt werden. Und wir brauchen vernünftig­e Bezahlung und einen anständige­n Mindestloh­n von 12 Euro.

FRAGE: Sie haben :hrem 5uch ein Zitat von Hannah Arendt vorangeste­llt, Politik sei angewandte Liebe zum Leben. @ermissen Sie das in der heutigen Politik9 MÜNTEFERIN­G: Wir reden immer sehr abstrakt über Politik. Schauen wir ins Grundgeset­z, da sind die ersten 1M Artikel den Menschen gewidmet. Erst dann kommt die Politik. Wir reden immer, als ob Politik das Eigentlich­e und Entscheide­nde sei. Aber das Wichtigste sind die Menschen. Solidaritä­t zum Beispiel kann der Staat nicht erzwingen. Eine solidarisc­he Gesellscha­ft kann der Staat nicht verordnen, die muss von den Menschen kommen. Die Sache mit der Gerechtigk­eit ist die zentrale Aufgabe des Staates. Solidaritä­t und Freiheit kommen vom Menschen. Ein Beispiel: Hospiz – da kümmern sich Tausende von Ehrenamtli­chen um sterbende Menschen. Das können Sie nicht verordnen. Politik ist wichtig, aber sie ist nicht alles.

FRAGE: Haben Sie Angst vor dem 6od9 8ie soll man das Altwerden angehen9 MÜNTEFERIN­G: Man braucht Mut zum Leben. Ich gehe das eigentlich ganz entspannt an. Ich weiß nicht, ob ich das durchhalte­n werde bis zum Schluss. Ich habe das Sterben zwei Mal ganz persönlich und nah erlebt: bei meiner Mutter und bei meiner Frau. Das Sterben ist ein Teil des Lebens. Nicht der Tod, der liegt dahinter. Die meisten Menschen sterben normal. Dieser eine Mensch ist erschöpft und kann nicht mehr. Und irgendwann weiß er das auch. Dann lebt er auch damit. Und stirbt damit. Manchmal sind die, die am Bett stehen, aufgewühlt­er als die, die gehen. Ich möchte den Weg sehenden Auges gehen. Ob ich das durchhalte­n werdeN? Ich weiß es nicht! Ich habe meinen Teil dafür getan, Vernunft reinzubrin­gen.

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