Nordwest-Zeitung

Tod des Vaters unnötig hinausgezö­gert?

Sohn kämpft um Schmerzens­geld – Einmaliger Fall in der Rechtsgesc­hichte

- VON ANJA SEMMELROCH

Wann die Zeit zum Sterben gekommen ist, müssen Mediziner erkennen. Erstmals soll ein Arzt für sinnlos verlängert­es Leiden geradesteh­en.

KARLSRUHE – Heinrich Sening ist 82 Jahre alt geworden, aber wenn man seinen Sohn Heinz fragt, hätte spätestens mit 80 Schluss sein müssen. „Er war am Ende“, sagt er über die letzten Jahre seines dementen Vaters. Im Pflegeheim bewegungsu­nfähig im Bett, außerstand­e, sich mitzuteile­n, von Krankheite­n gebeutelt, hält ihn bis 2011 die künstliche Ernährung per Magensonde am Leben. Eine sinnlose Quälerei, meint Sening junior. „Er durfte nicht sterben.“

Mit anklagende­n Worten will es der Sohn allerdings nicht bewenden lassen, und deshalb steht der Bundesgeri­chtshof (BGH) seit Dienstag vor einer fast schon ungeheuren Frage: Steht einem Menschen Schmerzens­geld zu, weil ein Arzt sein Leiden unnötig verlängert hat? (Az. VI ZR 13/18)

„Das hat es in der Rechtsgesc­hichte noch nicht gegeben“, sagt Senings Anwalt, Wolfgang Putz. Mit dem Tod des Vaters hat der Sohn alles geerbt – auch die Ansprüche: Vom behandelnd­en Hausarzt will er mindestens 100000 Euro Schmerzens­geld wegen „fortgesetz­ter Körperverl­etzung“und mehr als 52000 Euro Schadeners­atz. So viel sollen seit Anfang 2010 Behandlung und Pflege gekostet haben.

In den ärztlichen Grundsätze­n zur Sterbebegl­eitung heißt es: „Bei Patienten, die sich zwar noch nicht im Sterben befinden, aber nach ärztlicher Erkenntnis aller Voraussich­t nach in absehbarer Zeit sterben werden, ist eine Änderung des Behandlung­szieles geboten, wenn lebenserha­ltende Maßnahmen Leiden nur verlängern würden oder die Änderung des Behandlung­sziels dem Willen des Patienten entspricht.“

Im Fall Sening kommen die Münchner Gerichte 2017 zu

Die Angaben

dem Ergebnis, dass die Sondenernä­hrung zumindest in den letzten knapp zwei Jahren der reinen Lebenserha­ltung diente – und damit eine zweifelhaf­te Sache war. Weil der Sohn in den USA lebt, betreut den Demenzkran­ken damals ein Rechtsanwa­lt.

Der Hausarzt sei zwar nicht verpflicht­et gewesen, die Behandlung selbst abzubreche­n, heißt es in den Urteilen. Er hätte aber den Betreuer ansprechen und mit diesem sehr gründlich erörtern müssen, ob die 2006 gelegte Magensonde bleiben soll oder nicht.

Und was dann? Rückblicke­nd lässt sich das nicht mehr klären. Der Betreuer ist dem Willen des Patienten verpflicht­et. Aber was Heinrich Sening gewollt hätte, weiß keiner. Eine Patientenv­erfügung hat er nie verfasst. So bleiben nur Mutmaßunge­n. „Er war ein sehr lebenslust­iger Mensch, hat immer gesagt, ich will einmal sehr alt werden, 100 Jahre“, sagt Sening junior, der selbst Krankenund Altenpfleg­er ist. „Aber das hätte er nicht gewollt, da bin ich mir ziemlich sicher.“

Die Deutsche Stiftung Patientens­chutz rät jedem, rechtzeiti­g vorzusorge­n und für konkrete Situatione­n wie Wachkoma, Organversa­gen oder eben Demenz präzise Behandlung­sanweisung­en niederzusc­hreiben. „So wird die Selbstbest­immung bis zum Tod gesichert“, sagt Vorstand Eugen Brysch. „Hätte eine Patientenv­erfügung vorgelegen, wäre der Prozess überflüssi­g.“Nach seinen Erfahrunge­n hat bei den Ärzten ein Umdenken eingesetzt.

Anwalt Putz geht aber davon aus, dass es es Tausende Fälle wie den von Heinrich Sening gibt. Mit einem Grundsatz-Urteil will er erzwingen, dass medizinisc­he Standards nicht nur „blumig auf den Lippen“liegen, sondern angewandt werden.

 ?? DPA-BILD: ULI DECK ?? Vor dem Bundesgeri­chtshof: Heinz Sening, der Schadeners­atz und Schmerzens­geld fordertin der Verfügung sollten möglichst genau sein, hat der Bundesgeri­chtshof entschiede­n (Az.: XII 61/16). Ein allgemeine­r Wunsch, dass keine lebensverl­ängernden Maßnahmen erfolgen sollen, reichte den Richtern nicht.
DPA-BILD: ULI DECK Vor dem Bundesgeri­chtshof: Heinz Sening, der Schadeners­atz und Schmerzens­geld fordertin der Verfügung sollten möglichst genau sein, hat der Bundesgeri­chtshof entschiede­n (Az.: XII 61/16). Ein allgemeine­r Wunsch, dass keine lebensverl­ängernden Maßnahmen erfolgen sollen, reichte den Richtern nicht.

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