Rätsel um Deutschlands Totenzahlen
Hierzulande ist die Sterblichkeitsrate erstaunlich gering – Woran das liegen könnte
GENF – Das Coronavirus macht vor keiner Grenze halt. Und dennoch gibt es markante Unterschiede bei den Totenzahlen. Deutschland sticht mit einer relativ niedrigen Zahl von Toten gemessen an der Gesamtzahl der registrierten Fälle – der sogenannten Fallsterblichkeitsrate – hervor. Bis Dienstag hatte etwa Italien mehr als doppelt so viele Fälle wie Deutschland, die Fallsterblichkeit war dort aber mehr als 20 Mal höher als hierzulande.
„Wir wissen ehrlich gesagt noch zu wenig“, sagt Richard Pebody, Experte der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Es gibt aber mehrere Erklärungsansätze.
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„Italien, Spanien, diese Länder sind wahrscheinlich schon weiter in der Epidemie als Deutschland“, sagt Pebody. Dort dürften die ersten Fälle viel früher unentdeckt aufgetaucht sein und das Virus habe sich unbemerkt verbreitet. Es dauere nach der Infektion, bis sich Komplikationen einstellten. Viele Patienten seien wochenlang auf der Intensivstation, bevor sie sterben.
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Weil in vielen Ländern wenig getestet wird, kennt man nur das Durchschnittsalter der nachweislich Infizierten. Es dürfte aber viele jüngere Leute geben, die das Virus ebenfalls schon hatten und keine oder nur milde Symptome spürten.
Unter den nachweislich Infizierten ist das Durchschnittsalter in Italien viel höher als in anderen Ländern. „Durchschnittsalter Coronafälle Deutschland: 45 Jahre, Italien: 63 Jahre“, twitterte der Bevölkerungsforscher Andreas Backhaus am Montag.
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Der Nothilfe-Koordinator der WHO, Michael Ryan, verweist
In Deutschland liegt die sogenannte Fallsterblichkeitsrate zurzeit bei 0,4 Prozent. Noch niedriger ist sie in nur wenigen Ländern – zum Beispiel in Singapur bei 0,3 Prozent. auf die hohe Dunkelziffer bei den Infektionen: „In Deutschland gibt es eine sehr aggressive Teststrategie, deshalb dürften dort unter der Gesamtzahl der bestätigten Fälle mehr milde Fälle sein.“
WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus’ Aufruf: „Testen, testen, testen.“Die Länder müssten wissen, wie die Lage sei. „Man kann blind kein Feuer löschen“, sagte er.
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Je besser Krankenhäuser vorbereitet seien, desto mehr Leben könnten gerettet werden, sagt Ryan. „Wenn die Krankenhäuser von der Zahl der Patienten überwältigt werden, ist es eine simple Frage der Möglichkeiten, inwieweit angemessene Pflege geleistet werden kann und ob man auf jede Veränderung im Zustand des Patienten auf der Intensivstation reagieren kann.“Drei Faktoren seien entscheidend, sagt Pebody: die Zahl der Intensivbetten, ausreichend Schutzkleidung und gut ausgebildetes Personal.
Italien mit rund 60 Millionen Einwohnern hatte vor der Krise nach Behördenangaben 5000 Intensivbetten. Weitere wurden inzwischen geschaffen. In Deutschland mit rund 80 Millionen Einwohnern gibt es etwa 28000, und die Zahl soll nun noch verdoppelt werden.
Insgesamt sind Experten einig, dass rigoroses Testen, Isolieren von Infizierten sowie Quarantäne für Menschen, die mit Infizierten in Kontakt waren, die Epidemie bremsen.