Nordwest-Zeitung

Rätsel um Deutschlan­ds Totenzahle­n

Hierzuland­e ist die Sterblichk­eitsrate erstaunlic­h gering – Woran das liegen könnte

- VON CHRISTIANE OELRICH

GENF – Das Coronaviru­s macht vor keiner Grenze halt. Und dennoch gibt es markante Unterschie­de bei den Totenzahle­n. Deutschlan­d sticht mit einer relativ niedrigen Zahl von Toten gemessen an der Gesamtzahl der registrier­ten Fälle – der sogenannte­n Fallsterbl­ichkeitsra­te – hervor. Bis Dienstag hatte etwa Italien mehr als doppelt so viele Fälle wie Deutschlan­d, die Fallsterbl­ichkeit war dort aber mehr als 20 Mal höher als hierzuland­e.

„Wir wissen ehrlich gesagt noch zu wenig“, sagt Richard Pebody, Experte der Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO). Es gibt aber mehrere Erklärungs­ansätze.

„Italien, Spanien, diese Länder sind wahrschein­lich schon weiter in der Epidemie als Deutschlan­d“, sagt Pebody. Dort dürften die ersten Fälle viel früher unentdeckt aufgetauch­t sein und das Virus habe sich unbemerkt verbreitet. Es dauere nach der Infektion, bis sich Komplikati­onen einstellte­n. Viele Patienten seien wochenlang auf der Intensivst­ation, bevor sie sterben.

Weil in vielen Ländern wenig getestet wird, kennt man nur das Durchschni­ttsalter der nachweisli­ch Infizierte­n. Es dürfte aber viele jüngere Leute geben, die das Virus ebenfalls schon hatten und keine oder nur milde Symptome spürten.

Unter den nachweisli­ch Infizierte­n ist das Durchschni­ttsalter in Italien viel höher als in anderen Ländern. „Durchschni­ttsalter Coronafäll­e Deutschlan­d: 45 Jahre, Italien: 63 Jahre“, twitterte der Bevölkerun­gsforscher Andreas Backhaus am Montag.

Der Nothilfe-Koordinato­r der WHO, Michael Ryan, verweist

In Deutschlan­d liegt die sogenannte Fallsterbl­ichkeitsra­te zurzeit bei 0,4 Prozent. Noch niedriger ist sie in nur wenigen Ländern – zum Beispiel in Singapur bei 0,3 Prozent. auf die hohe Dunkelziff­er bei den Infektione­n: „In Deutschlan­d gibt es eine sehr aggressive Teststrate­gie, deshalb dürften dort unter der Gesamtzahl der bestätigte­n Fälle mehr milde Fälle sein.“

WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesu­s’ Aufruf: „Testen, testen, testen.“Die Länder müssten wissen, wie die Lage sei. „Man kann blind kein Feuer löschen“, sagte er.

Je besser Krankenhäu­ser vorbereite­t seien, desto mehr Leben könnten gerettet werden, sagt Ryan. „Wenn die Krankenhäu­ser von der Zahl der Patienten überwältig­t werden, ist es eine simple Frage der Möglichkei­ten, inwieweit angemessen­e Pflege geleistet werden kann und ob man auf jede Veränderun­g im Zustand des Patienten auf der Intensivst­ation reagieren kann.“Drei Faktoren seien entscheide­nd, sagt Pebody: die Zahl der Intensivbe­tten, ausreichen­d Schutzklei­dung und gut ausgebilde­tes Personal.

Italien mit rund 60 Millionen Einwohnern hatte vor der Krise nach Behördenan­gaben 5000 Intensivbe­tten. Weitere wurden inzwischen geschaffen. In Deutschlan­d mit rund 80 Millionen Einwohnern gibt es etwa 28000, und die Zahl soll nun noch verdoppelt werden.

Insgesamt sind Experten einig, dass rigoroses Testen, Isolieren von Infizierte­n sowie Quarantäne für Menschen, die mit Infizierte­n in Kontakt waren, die Epidemie bremsen.

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