Social Distancing vor 2500 Jahren
Wie fühlt sich Lockdown an, wenn es weder Smartphones noch soziale Medien gibt? Wie kommt eine Gesellschaft damit klar, wenn über sie nicht nur eine Epidemie, sondern auch noch andere Katastrophen hereinbrechen? So erging es 430 v. Chr. den Athenern, die damals schon seit einem Jahr mit der zweiten Großmacht Griechenlands, Sparta, im Krieg lagen.
Es ging um viel, eigentlich um alles: Der Peloponnesische Krieg (431-404 v. Chr.) war ein episches Kräftemessen um die Hegemonie in Hellas. Im Sommer 430 fiel ein spartanisches Heer in Attika ein und belagerte Athen. Die Athener zogen sich hinter das Befestigungssystem ihrer „langen Mauern“zurück, das auch den Hafen Piräus schützte. Als bedeutendster Seemacht Griechenlands konnte die Belagerung den Athenern wenig anhaben. Sie versorgten sich über See.
Nicht vorbereitet waren sie auf die Mikroben, gegen die ihre Stadtmauer keinen Schutz bot. Möglicherweise waren Infizierte mit den Versorgungsschiffen nach Piräus gelangt, denn hier brach die Krankheit zuerst aus. Sie war zuvor schon auf Ägäisinseln beobachtet worden und scheint aus Afrika gekommen zu sein.
Thukydides, der Historiker des Peloponnesischen Krieges, erkrankte selbst und überlebte. Er schildert sehr genau, mit welchen Symptomen sich die Krankheit äußerte: Sie begann mit einem plötzlichen Hitzegefühl im Kopf, es folgten Rötung von Augen, Rachen und Zunge, übelriechender Atem, dann Niesen, Heiserkeit und Husten. Schließlich befiel die Krankheit den Magen, löste Krämpfe und Brechreiz aus. Die Kranken waren von Pusteln übersät, litten unter Hitzegefühl, großem Durst und Schlaflosigkeit. Viele starben bereits in diesem Stadium. Wer überlebte, wurde von Durchfall und Krämpfen im Bauch geplagt, etliche trugen bleibende Schäden davon.
Als Erste starben die Ärzte an der Seuche. Sie wussten kein Heilmittel, und so türmten sich in der belagerten Stadt die Leichenberge. Tote und Sterbende hätten durcheinander auf den Straßen gelegen, berichtet Thukydides, die Schwerkranken sich in ihrem Durst und ihrer Verzweiflung in die Brunnen gestürzt.
Die Athener reagierten mit Social Distancing: Sie vermieden es, einander zu besuchen und gingen einander, soweit das in der hoffnungslos übervölkerten Stadt möglich war, aus dem Weg. Darüber wurde die Pflege der Kranken vergessen. Der soziale Zusammenhalt drohte zu implodieren. Man vernachlässigte die religiösen Bräuche und die Bestattung der Toten. Während einige der Depression verfielen, gaben sich andere rauschhaften Festivitäten hin. Wohlhabende Familien verarmten oder starben ganz aus, Krisengewinnler machten goldene Geschäfte.
Auch Perikles, Athens großer Staatsmann, der die Stadt in den Krieg mit Sparta geführt hatte, starb 429 v. Chr. an der Seuche, die vier Jahre nach ihrem Auftreten urplötzlich verschwand. Handelte es sich um Typhus? Oder um Ebola? Rund zwei Dutzend Ferndiagnosen sind zu der Attischen Seuche versucht worden, keine deckt sich vollständig mit dem von Thukydides geschilderten Befund. Vermutlich ist die Suche nach dem Erreger zwecklos, so wie bei den meisten historischen Seuchen, die nie wiedergekehrt sind. Mit jeder neuen Epidemie aber kehren Disruption und Ängste zurück, die sich zur Hysterie steigern und im schlimmsten Fall im Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung entladen können. Der immerhin ist Athen erspart geblieben. Die Stadt kämpfte noch über zwanzig Jahre ihren brutalen Krieg gegen Sparta. An Athens Niederlage war am Ende nicht die Seuche schuld, sondern die unstillbare Hybris seiner Politiker.
Autor dieses Beitrages ist Michael Sommer
(49). Der gebürtige Bremer ist Professor für Alte Geschichte an der Universität Oldenburg und Vorsitzender des Philosophischen Fakultätentages, der Interessenvertretung der geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächer in Deutschland. @Den Autor erreichen Sie unter forum@infoautor.de