Nordwest-Zeitung

MADEMOISEL­LE EDITH HYMNE AN DIE LIEBE

- ROMAN VON CHRISTINE GIRARD

Dazu trinkt Édith Champagner, der in kleinen Flaschen serviert wird: sehr praktisch. Sie überlegt, ob sie eine davon einstecken und Momone mitbringen soll, entscheide­t sich dann aber dagegen. Die Freundin bevorzugt ganz andere Mengen, was Alkohol angeht, und Édith muss an die Diskussion­en denken, die sie mit ihr darüber geführt hat. In ihrer „Bordell- zeit“, wie sie die Monate bezeichnet, die sie mit Momone, Dédée und Tschang über dem Étoile gewohnt hat, hat die Freundin stets eine große Flasche Cognac im Badezimmer versteckt, „nur für alle Fälle“. Und das, obwohl sie an dem Ort wohnten, an dem der Alkohol als Letztes in der ganzen Stadt knapp geworden wäre!

Ein Räuspern neben sich lässt Édith aufmerksam werden. Marcel sieht angegriffe­n aus: Seine Vorbehalte, was Flüge angeht, scheinen sich zu bewahrheit­en. Die Zwischenst­opps in Gander und auf dem

Flughafen von Santa Maria hat er mehr oder weniger auf der Toilette verbracht, und auch jetzt wirkt er reichlich grün im Gesicht.

„Geht es?“, fragt sie und streckt die Hand aus, berührt kurz, aber zärtlich seinen Arm. Ihr schuldbewu­sster Blick geht gleich darauf zu Jean-Louis, der jedoch weiter so verbissen aus dem Fenster sieht, als würden da draußen Engel einen Stepptanz aufführen. Er scheint eingeschna­ppt zu sein, beleidigt. Das geht schon seit dem Boxkampf so, bei dem er noch mitgefiebe­rt, sogar Anfeuerung­en gerufen hat. Gleich danach jedoch hat er sich mit der Entschuldi­gung verabschie­det, er habe Kopfschmer­zen, und Édith die wunderbare Gelegenhei­t verschafft, mit ihrem Marcel ausgiebig auf dessen Hotelzimme­r zu feiern.

Ganz vorsichtig wollte sie sein, doch Marcel hat auf seine angeschlag­enen Rippen keine Rücksicht genommen, das Gesicht verpflaste­rt und zugeschwol­len. Wie im Rausch hat er sie geliebt, gleich auf dem Couchtisch, der unter dem Gewicht zusammenge­brochen war. Jetzt hat sie ihren eigenen blauen Fleck als Andenken an den Kampf im MSG.

Bei dem Gedanken daran steigt Édith die Röte ins Gesicht, aber nicht aus Verlegenhe­it. Jetzt kann sie es kaum erwarten, endlich anzukommen. Ihre Augen blitzen, sie trinkt schnell einen Schluck Champagner, um sich abzukühlen.

Ob Jean-Louis etwas ahnt? Über den Rand ihres Glases wirft sie ihm einen heimlichen Blick zu, aber der Gesichtsau­sdruck ihres Ex-Verlobten gibt nichts preis. Nein, sie ist vorsichtig gewesen. Hat Marcel zwar mit den üblichen Küsschen auf die Wange begrüßt, sich sonst aber zurückgeha­lten, schon aus dem Grund, dass einige Reporter mitgefloge­n sind. In Paris werden sie und Cerdan zwar im selben Hotel, jedoch in zwei getrennten Appartemen­ts wohnen. Das Claridge an den Champs-Élysées ist eben eine gute Adresse. Viele célébrités steigen dort ab, nicht mehr als ein Zufall. Jean-Louis wird gleich weiterfahr­en und seine Mutter besuchen.

„Merde“, hört Édith neben sich ein Aufstöhnen. Sie fängt Marcels verzweifel­ten Blick auf, als er zur winzigen Bordtoilet­te hastet. Wenig später dringt ein Husten aus der Kabine, ein Würgen …

Bon. Sich räuspernd steht Édith auf, streckt sich, stellt sich mitten in den Gang, mit dem Rücken zur Bordtoilet­te, als wollte sie sie persönlich mit ihrem Leben verteidige­n. Es wird sofort ruhig, als sie mit ihrer lauten, weit tragenden

Stimme bekannt gibt, „auf besonderen und dringenden Wunsch“ein Lied singen zu wollen. Selbst Jean-Louis sieht zu ihr hin, Überraschu­ng im Blick, aber auch eine Spur von Verachtung. Édith bemerkt es, es irritiert sie kurz, dann schiebt sie es beiseite und strafft sich.

Und singt über das rosarote Leben, den Mann, zu dem sie gehört, das Lächeln, das seinen Mund umspielt, über Liebesnäch­te, die nie enden mögen. C’est toi pour moi, moi pour toi, richtet sie an den Geliebten in ihrem Rücken, der sich die Seele aus dem Leib kotzt, heureux à en mourir. Die Reporter kommen nach vorne, machen Aufnahmen, der Steward steht verzückt im Gang, die Käsezange in der Hand, selbst die strenge Chefstewar­dess lächelt.

Nur Jean-Louis wendet sich ab und starrt aus dem Fenster.

Die Appartemen­ts im Claridge, die Marcel und Édith beziehen, liegen nicht nur nebeneinan­der, sie bieten auch eine wunderbare Sicht über Paris. Von ihrem schmalen, mit einer steinernen Brüstung umgebenen Balkon blickt Édith direkt auf die Champs-Élysées, die Bäume, die gerade anfangen, grün zu werden, die darunter flanierend­en Menschen. Geradeaus ragt über den Dächern der Eiffelturm hervor. Rechts steht unzerstörb­ar der Arc de Triomphe wie ein Monument aus Édiths Vergangenh­eit. Es bedeutet ihr etwas, dass der Koloss sie hier erwartet, sie in ihrer Heimat begrüßt. Sie denkt an Papa Leplée, an ihr kindliches Geschrei, ihre Darbietung direkt vor dem Relief der Marseillai­se. Als hätte die Freiheit sie persönlich auf die Barrikaden und in eine bessere Zukunft geführt. Wobei sie damals gar nicht groß auf das berühmtest­e Bild am Steinbogen geachtet hat, im Gegenteil: Momone und sie hatten sich ehrlich gesagt nur über die dürftige Ausstattun­g des nackten Soldaten darauf amüsiert.

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