Ohne Würde keine Freiheit
Über jüdisches Leben in Deutschland 75 Jahre nach der Naziherrschaft
Mi-Avdut le-Cherut – von der Unterdrückung zur Freiheit: Dieser Satz steht im Zentrum der Geschichte von Pessach, des Festes, mit dem jüdische Gemeinden in aller Welt erst vor wenigen Wochen den Auszug aus Ägypten gefeiert haben. Die Freiheit von Verfolgung und Qual, an die zu Pessach erinnert wird, ist nicht nur für die jüdische Gemeinschaft bis heute hochaktuell.
Das gilt zumal in diesem Jahr, da wir zu verschiedenen Gedenktagen an das Ende der Judenverfolgung und des Holocaust im Jahr 1945 erinnern. In diesen Tagen jährte sich die Befreiung des Konzentrationslagers Dachau zum 75. Mal. Am 29. April vor 75 Jahren trafen die amerikanischen Soldaten im ehemaligen „Musterlager“der Nationalsozialisten ein und beendeten die Tortur der wenigen verbliebenen Gefangenen.
Für viele kam die Befreiung zu spät: Allein in Dachau hatten die Nationalsozialisten über 41 000 Menschen ermordet. Die Geretteten dagegen gewannen an diesem Tag weit mehr zurück als ihre körperliche Freiheit: Sie bekamen ihre Würde wieder und jene Menschlichkeit, die die Nationalsozialisten ihnen über viele Jahre zu nehmen versucht hatten. Erst damit waren sie wieVergessen
der wirklich frei. Die Erkenntnis, dass Freiheit ohne Menschenwürde undenkbar ist, fand wenige Jahre später auch Eingang ins Grundgesetz. Diesem
bröckeln, wenn das Wissen um die Vergangenheit abnimmt; ja wenn mancher gar meint, davon überhaupt nicht betroffen zu sein. Max Mannheimer sel. A., ein Überlebender unter anderem des Dachauer Lagers, sagte einst, seine schrecklichen Erlebnisse während des Holocaust seien „Teil meiner Identität und würde es immer bleiben“.
Dasselbe gilt auch auf gesellschaftlicher Ebene: Der Kampf für die Menschenwürde bleibt ein Kampf gegen das
Umstand ist zu verdanken, dass es in Deutschland heute wieder eine jüdische Gemeinschaft gibt.
Dieses demokratische Fundament beginnt jedoch zu und das Verharmlosen – und umgekehrt. Es ist kein Zufall, dass die AfD als Gegner unserer Demokratie sich heute die Erinnerungskultur als besonderes Ziel ausgesucht hat, das sie seit Jahren mit Attacken und Schmähungen überzieht. Sie stört sich an einem Gedenken, das daran erinnert, warum Menschenwürde, individuelle Freiheit und Demokratie untrennbar zusammengehören.
Wo aber solche Begriffe nichts mehr gelten, da sind Mordfantasien und Anschläge wie in Halle oder Hanau keine Überraschung mehr. Eine zutiefst verunsicherte jüdische Gemeinschaft muss 75 Jahre nach dem Ende des Holocaust mehr als ein Warnzeichen sein: Sie ist ein Alarmsignal für die gesamte Gesellschaft.
Chag Ha-Cherut, das „Fest der Freiheit“, haben jüdische Menschen in Deutschland seit 1945 wieder in Freiheit feiern können – selbst in diesem Jahr, mit den massiven Einschränkungen der derzeitigen Corona-Krise.
Unabhängig von den Umständen braucht es heute mehr denn je ein tatkräftiges Erinnern und ein Eintreten gegen den Hass, damit dieses jüdische Leben und die demokratische Kultur in unserem Land auch eine Zukunft haben.