OSTFRIESENHÖLLE
23. Fortsetzung
Claudius setzte sich anders hin. Sein Herz raste. Er presste das Handy an sein Ohr. Seine ungewöhnliche Reaktion brachte den Fahrer dazu, im Rückspiegel nach ihm zu sehen.
Seit vierundzwanzig Jahren war er festangestellter Fahrer und hatte vier Minister überlebt. Er wusste, wann sie entspannt hinten saßen und wann jemand nervös wurde. Hatte sie erlebt, wie sie durch verlorene Wahlen ihre Posten aufgeben mussten, wie sie Intrigen in der eigenen Partei erlagen und wie sie selbst Intrigen schmiedeten. Er war verschwiegen wie ein Grab, aber er registrierte alles.
„Und mit wem spreche ich?“, fragte Claudius.
„Sie können mich MMA nennen.“
„MMA? Ist das ein Name?“„MMA muss reichen. Wir haben Ihren Enkel. Sie wissen ja, wie das läuft. Keine Polizei. Was sonst passiert, muss ich Ihnen ja wohl kaum erklären.“
Thomas Claudius schätzte sie ihrer Stimme nach auf Anfang, Mitte dreißig. Sie sprach mit russischem Akzent. Das konnte aber geschauspielert sein.
„Sie schlagen dem Innenminister vor, die Polizei nicht einzuschalten?“In seiner Stimme klang gegen seinen Willen leichter Spott mit. Er erschrak über sich selbst. Er hatte keine Untergebene am Apparat.
Er räusperte sich. Seine Rückenmuskulatur verkrampfte. Eine Stimme in ihm schrie laut: Verbock es nicht! Das hier wird lebensentscheidend!
„Sie werden“, sagte er hart, „nichts von mir bekommen, bevor ich nicht mit meinem
Enkel geredet habe.“
„Das geht jetzt nicht.“„Wer sagt mir, dass Sie ihn überhaupt haben?“
„Soll ich Ihnen einen kleinen Finger schicken oder lieber ein Ohr?“
Seine Selbstsicherheit war sofort dahin. Er schwitzte sein Hemd in Sekunden durch. „Was wollen Sie von mir? Geld?“
Sie lachte wie eine Barfrau über einen Männerwitz, den sie schon oft gehört hatte. „Wir wollen die Liste sämtlicher VLeute, und Ihrem Enkelkind wird nichts passieren.“
„Sie wollen was?“Es klang verrückt für ihn. Eine Million, ja, vielleicht auch zwei. Aber eine Liste der V-Leute? Was sollte das?
Sie wiederholte die Forderung sehr ruhig: „Eine Liste aller V-Leute.“
„Von welcher Organisation?“
Da war wieder dieses Barfrauenlachen, das Männer suggerieren sollte: Ich kenne den Witz, und ich habe schon ganz andere, viel schlimmere Sachen gehört. Da würdest du rote Ohren bekommen.
„Glauben Sie, wir machen es so billig? Wir wollen eine Liste aller V-Leute in sämtlichen Organisationen.“
„Und dann? Was wollen Sie damit? Kein Mensch braucht so etwas.“
Sie blies Luft aus wie eine starke Raucherin und inhalierte dann gleich wieder. „Nun“, sagte sie, „wir haben da so einen Verdacht, dass sich eine gewisse Person, die bei uns in der Organisation durchaus zur Führungsriege gehört, auch auf Ihrer Gehaltsliste befindet. Wir wären sehr beruhigt, das Gegenteil zu erfahren.“
„Und wenn diese Person auf meiner Gehaltsliste steht, wie Sie es so nett ausdrücken? Was passiert dann?“
„Muss ich Ihnen das wirklich sagen?“
„Sie überschätzen meine Möglichkeiten, sehr geehrte Frau MMA. Ich kann Ihnen unmöglich …“
„O doch, Sie können. Und Sie werden. Die Zeit drängt. Marvin wird von Leuten bewacht, die wenig Humor haben. Ich persönlich mag die Kerle nicht, aber ich würde sie nicht reizen.“
Thomas Claudius spürte, dass sie auflegen wollte. Sie war ganz kurz davor. Er hatte das Gefühl, alles falsch gemacht zu haben. Er durfte das hier nicht verbocken.
„Bitte! Was Sie von mir verlangen, ist unmöglich! Das sind geschützte Daten.“
„Na, der war gut! Dann gib dir mal ein bisschen Mühe, Opi. Wir wollen doch das Ganze nicht an der Datenschutzverordnung scheitern lassen, oder?“
Sie drückte das Gespräch weg. Er starrte sein Handy an.
Er versuchte, einen Rückruf zu starten, doch durch die unterdrückte Telefonnummer war es nicht möglich.
Er war sich nicht sicher, was sein Fahrer mitbekommen hatte. Er kannte ihn als loyale, verschwiegene Person. Aber das hier war verdammt starker Tobak.
Der Fahrer spürte die Blicke in seinem Nacken. Er sah auf die Fahrbahn, als ob nichts geschehen wäre, und sagte:
„Wenn Sie irgendetwas brauchen … Wenn ich etwas für Sie tun kann …“
Thomas Claudius schluckte schwer. „Ich kann mich doch auf Ihre Verschwiegenheit verlassen?“
„Absolute Diskretion ist in meinem Beruf ebenso wichtig wie gute Fahrpraxis und – wenn ich das erwähnen darf – eine solide Nahkampfausbildung.“
„Bitte drehen Sie um. Wir fahren nach Hannover ins Ministerium.“
„Wir sind auf der Autobahn. Ich kann hier nicht umdrehen.
Und ich möchte Sie daran erinnern, Herr Minister, Sie haben in zwei Stunden einen Auftritt in der Polizeiakademie in Nienburg.
Wir sind ohnehin schon spät dran. Sie wollten vorher noch mit dem Direktor und …“
„Ja, ich weiß. Das muss ausfallen.“
Der Fahrer schwieg fast ein bisschen beleidigt, und Claudius schämte sich, weil er so schroff gewesen war. Er hatte immer versucht, andere zu überzeugen, die Mitarbeiter mitzunehmen, statt etwas anzuordnen. Er wollte keine Teams führen, die sich aus Angst unterwarfen. Lieber versammelte er Menschen um sich, die mitdachten und eine eigene Verantwortung für die gemeinsame Sache spürten.
Er rief seine persönliche Mitarbeiterin Gesine Peters an. Sie war Ostfriesin mit Leib und Seele. Hinter Leer begann für sie bereits die Fremde. Trotzdem arbeitete sie in Hannover für ihn. Sie war zuverlässig, belastbar, loyal und praktisch immer gutgelaunt. Jedes Wochenende fuhr sie an die Küste zurück.
Für ihr Häuschen in Norddeich war ihr eine Menge Geld geboten worden. Ein Bauunternehmer wollte es abreißen und auf dem Grundstück Ferienapartments errichten. Sie hatte abgelehnt.
Geld bedeutete ihr nicht viel. Ein Haus hinterm Deich aber schon.
Er bat Gesine Peters, den Auftritt in der Akademie abzusagen oder einen Vertreter zu schicken. Seine Stimme klang so belegt, dass ihr die Frage herausrutschte: „Ist etwas mit Ihrer Frau? Es geht ihr doch hoffentlich gut?“
„Ja, danke, alles den Umständen entsprechend. Sie kommt wieder auf die Beine. Sie hat noch einmal Glück gehabt.“, wiegelte er ab.
Er sagte nichts mehr, aber sie hatte das Gefühl, dass er noch nicht fertig war. So kannte sie ihn gar nicht. Normalerweise druckste er nicht herum, sondern pflegte das freie Wort.
Im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen siezte er auch langjährige Mitarbeiter. So verlor er in Gesprächen nie die professionelle Distanz. Gespräche beendete immer er selbst.
Meist mit einem knappen: „So machen wir das.“Er sagte es meist mehr zu sich selbst als zu ihr. Aber diesmal blieb dieser Schlusssatz aus. Sie hörte nur noch seinen Atem und ein Rascheln.
„Brauchen Sie mich später noch?“, fragte sie vorsichtig. „Ja … Nein …“
Was war los mit ihm? Gesine Peters beschloss zu warten, gleichgültig, wie spät es werden würde. Nein, sie war nicht verliebt in ihn, sie machte sich lediglich Sorgen. Er hörte sich irgendwie gebrochen an. Schwer erschüttert.
*
Das Büro lag im eigentlichen Wilhelmshaven. In der Keimzelle der Stadt, in Heppens, im Stadtbezirk Mitte. Fast hätte sie sich auf dem Weg vom Parkplatz zum Büro einen Coffee-to-go gekauft. Aber obwohl es so verführerisch duftete, entschied sie sich dagegen. Erstens hatte sie viel zu viele Probleme mit dem Magen, außerdem wollte sie bei dieser Vermüllung der Erde durch Plastiktüten und – bechern nicht pausenlos mitmachen.
Wenigstens ihr persönliches Verhalten wollte sie ändern. Schließlich hatten sie eine teure Kaffeemaschine im Büro, aber damit war es nicht besser. Arne, die Umweltsau, hatte sie gekauft. Man brauchte dafür bunte Kapseln.
Harm Jospich nannte es die dümmste und teuerste Art, Kaffee zu kochen. Er benutzte die Maschine aber täglich.
Michaela Baumann betrat das Büro vor ihrem Mann. Er traf noch einen Mandanten in der Innenstadt. Er fand Besprechungen im Büro unnötig. „Vertrauen“, sagte er, „entsteht viel schneller bei einem Spaziergang im Park oder bei einem Glas Bier an der Theke.“Den Kleinscheiß, den Büroalltag, überließ er gern den anderen.
Es roch nach Qualm. Entgegen aller Absprachen und Versprechungen hatte Harm also wieder am Schreibtisch geraucht.
Sie schimpfte schon im Flur los, dabei kam ihr ihre Stimme geradezu lächerlich kraftlos vor. Solche Piepstöne nahm Harm garantiert nicht ernst. Fortsetzung folgt