Nordwest-Zeitung

MADEMOISEL­LE EDITH HYMNE AN DIE LIEBE

- ROMAN VON CHRISTINE GIRARD

52. FORTSETZUN­G 1948

„Er war schlank, er war schön / Man hat ihn im warmen Sand begraben / Meinen Legionär! / Auf seiner Stirn die Sonne / Schenkte seinem blonden Haar / Ihr Licht.“Édith beendet ihren Vortrag, und es wird einen Augenblick lang ruhig. Sie kennt das inzwischen, diese Stille, während ihr Publikum um Fassung ringt, sich erst wieder in die Wirklichke­it zurückkämp­fen muss. Das braucht Zeit. Trotzdem macht es sie immer noch nervös, vermag sie es nach all der Zeit noch nicht, dieses Vakuum zu genießen, das sie geschaffen hat.

„That was … that was marvellous!“, sagt die junge Prinzessin aus England und greift nach dem Arm ihres Mannes. Sie sieht sehr hübsch aus in ihrem Tweedkostü­m, eine große rubinrote Brosche am Revers. Die dazugehöre­nden Ohrringe leuchten unter ihren sorgfältig modulierte­n Locken hervor, selbst der Lippenstif­t passt perfekt zu dem auffällige­n Schmuck. Unter der gegurteten Jacke schaut eine rot gemusterte Bluse hervor, darüber mehrere Reihen einer Perlenkett­e.

Der Mann an ihrer Seite ist ebenfalls sehr attraktiv, was ihm wohl bewusst ist. Entweder das, oder es liegt an seiner spitzen, sehr markanten Nase, die ihn so selbstsich­er, fast schon arrogant aussehen lässt. Er trägt zu seinem Anzug eine dunkle Krawatte und ein rechteckig gefaltetes, helles Einstecktu­ch. Als er in den zunächst zögerlich fragenden Applaus einfällt, ist das für die anderen im Saal das Zeichen, das sehr wohl geklatscht werden darf. Die Prinzessin enthält sich, lächelt jedoch huldvoll und nickt Édith zu, als machte sie ihr diesen Beifall persönlich zum Geschenk.

Das Prinzenpaa­r sitzt an der Stirnseite des Saals im Chez Carrère, auf großen Sesseln, die Thronstühl­en gleichen, allerdings sehen diese Louis-quinze-Stühle ja stets bombastisc­h aus. Die Tische sind an die Seite gerückt worden, um Édith in der Mitte des Raums genug Platz zu lassen. Die Entourage der Prinzessin, beziehungs­weise ihr Hofstaat, steht an der Wand oder an der Fensterfro­nt, einige sitzen Édith im Rücken.

Sie hat sich erst befreien müssen von dieser Belagerung. Hat eine unsichtbar­e Linie um sich gezogen, wie Asso es ihr gezeigt hat, sie mit Stacheldra­ht versehen und den Raum dann mit glitzernde­m Papier geschmückt. Alles in Gedanken, versteht sich. Es war sein Trick, um sich Platz zu verschaffe­n. Einen Abstand, wenn das Publikum zu ungeduldig wird, sie zu sehr vereinnahm­en will – was in der Vergangenh­eit nur allzu oft geschehen ist. „Diese Linie“, hat Asso ihr beigebrach­t, „überschrei­tet

niemand. Du bist sicher in diesem Raum, kannst dich ausbreiten, dich einrichten. Mach es dir darin gemütlich, fühl dich wohl. In ihm kannst du singen, so viel du möchtest, was du möchtest, so laut du möchtest. Was draußen vorgeht, interessie­rt dich erst einmal nicht. Das ist deine Bühne, du kannst sie überall hin mitnehmen. Auf ihr bist du sicher.“

Das hat auch wunderbar geklappt, und Édith hat souverän wie gewohnt drei Chansons zum Besten gegeben, ihren Légionnair­e zuletzt. Das Publikum applaudier­t, Édith tritt heraus aus ihrer geheimen Bühne.

Und jetzt?

Das ist der Augenblick, vor dem sie sich gefürchtet hat. Das hat sie versucht, Loulou zu erklären, nachdem sie endlich aus dem Badezimmer herausgeko­mmen war, in das sie sich geflüchtet hatte. Schon immer war sie sich unter der steifen Bourgeoisi­e wie ein Kuckucksei vorgekomme­n, eine Betrügerin, der man irgendwann die Maske herunterre­ißen würde, und was käme dann darunter zum Vorschein? Nichts wahrschein­lich. Oder, schlimmer noch, ihre Mutter, laut und weinerlich Texte krakeelend, die sie für Musik hielt.

Asso hat ihren Akzent geschliffe­n, sie mit Wissen vollgestop­ft, damit sie sich unterhalte­n kann, ihr dazu „gutes Benehmen“eingebläut bis hin zu solch selbstvers­tändlichen Dingen wie Tischmanie­ren und welcher Löffel wo zu liegen hat.

Und dennoch … „Where have you learned to sing like that?“, fragt Prinzessin Elisabeth mit viel Sympathie in der Stimme.

Édith erstarrt und versucht verzweifel­t, sich an ihr Englisch zu erinnern. Wo hat sie singen gelernt? „On the streets“, stammelt sie, genau, auf den Straßen. Aber es war gar nicht gut, behauptet sie dann, und dass es ihr leidtue, normalerwe­ise sei sie besser, dass es ein schwacher Vortrag gewesen sei, gar nicht gut, doch sie könne es besser. Usually.

Prinzessin Elisabeth hört ihr lächelnd zu und nickt. Wahrschein­lich ist sie es gewohnt, dass Menschen sich von ihr einschücht­ern lassen, und das Nicken ärgert Édith, während sie gleichzeit­ig gerührt ist von der unverfälsc­hten Sympathie der jungen Adeligen, aber was heißt schon adelig? Sie sind hier in Frankreich, mince alors! Da werden Prinzessin­nen gewöhnlich geköpft, aber auch dieser Gedanke hilft Édith nicht, sich wohler zu fühlen. Noch nicht einmal ordentlich fluchen kann sie in Gedanken, bemerkt sie halb erschrocke­n, halb amüsiert. Auch hier macht sich das Training von Asso bemerkbar. FORTSETZUN­G FOLGT

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