OSTFRIESENHÖLLE
28. Fortsetzung
Dieser Rostock war möglicherweise Polizist oder ein hohes Tier im Innenministerium. Jedenfalls hatte er ihn auf Langeoog einfach mit Zustimmung der Polizistin abgeholt. Oder waren die zwei Komplizen?
Rostock verfügte über ein kleines Privatflugzeug, und er konnte fliegen. Er fuhr ein sehr gutes Auto, einen weißen Mercedes der S-Klasse. Trotzdem wirkte Rostock auf eine besondere Art mittellos, so als hätte er gar nicht nötig, sich irgendetwas zu kaufen, weil ihm alles sowieso zur Verfügung stand. Die Dinge selbst schienen ihm nichts zu bedeuten. Er benutzte sie halt. Er behandelte aber alles, als sei es für ihn verzichtbar. Er war einer, der sein Herz nicht an Dinge hängte.
Er mochte Cafés – falls das keine Lüge gewesen war – , und er hörte nebenan Mark Knopflers Tracker. Marvin hatte das Konzert in Hamburg in der O2-Arena mit seinen Großeltern besucht. Ja, es war vielleicht für viele ein bisschen peinlich, mit Omi und Opi zu einem Konzert zu gehen, aber nicht für ihn.
Marvin mochte diese relaxte Rockmusik. Gerade in seiner Situation gab sie ihm Hoffnung. Die Musik war so unaggressiv. Vielleicht gelang es ja dem Songschreiber der Dire Straits, Rostock runterzuholen.
Was sollte er nun mit Darwins Theorie machen? Darin ging es ja ums Überleben, und genau das war jetzt das Thema für ihn. Die Nagelprobe! Anpassung an die veränderten Bedingungen, was bedeutete das für ihn?
Er starrte immer wieder auf die Mausefallen. Sollte er zur Maus werden? Wollte Rostock ihm damit sagen, du sitzt in der Falle, Junge?
Er musste zur Toilette, aber er traute sich weder, nach Rostock zu rufen und ihn zu fragen, noch wollte er einfach ins Bett pinkeln. Was ich auch tue, dachte er, es ist falsch. Es kann seine Wut befeuern. Kann der letzte Impuls sein, den er braucht, um mich zu prügeln oder zu töten. Aber warum, verdammt, warum? Was habe ich getan? Hat es mit Cosmo zu tun? Ist es einfach eine Entführung mit Lösegeldforderung? Warum dann gerade jetzt? Welcher Entführer ist denn so bescheuert und holt sein Opfer selbst bei der Polizei ab? Sie kannten doch jetzt Rostocks Gesicht. War ihm das genauso gleichgültig wie die Dinge, mit denen er umging? Kalkulierte er ein, dass er verhaftet werden würde? Und dann? Was sollte das alles?
Knopfler sang ausgerechnet jetzt: It’s all too late now … Es war der Song Beryl. Seine Omi hatte ihm während des Konzerts erklärt, Knopfler habe den Song für eine befreundete Schriftstellerin geschrieben, die an Krebs gestorben sei. Erst nach ihrem Tod habe sie den Booker Prize bekommen, also leider zu spät. Viel zu spät. Laut seiner Omi wurde Beryl zeitlebens unterschätzt und bei Preisvergaben gern übersehen. Er selbst hatte nie ein Buch von Beryl Brainbridge gelesen. Seine Omi alle. Auf Englisch.
Der Herr Innenminister, mit Sonnenbrille, in Jeans, mit offenem Baumwollhemd beim Konzert, hatte sogar zwei Bodyguards dabei. Er hatte sie Marvin als Kumpels aus alten, wilden Zeiten vorgestellt, aber Marvin wusste genau, es waren Bodyguards.
Marvin hätte nie im Leben diese Leibwächter und Security-Leute gebraucht. Es war ihm peinlich gewesen. Er erkannte an ihrer Anwesenheit immer, wie die allgemeine Sicherheitslage im Staat war. Manchmal sah er wochen- ja monatelang niemanden, dann plötzlich wimmelte es von diesen unauffälligen Herren. Sie wollten ihn sogar zur Schule bringen. Lustige Idee, fand Marvin. Vielleicht konnten sie ihm beim Schummeln helfen.
Er hatte sich immer spöttisch gegen diese Präsenz aufgelehnt. Jetzt hätte er viel dafür gegeben, einen Personenschützer in seiner Nähe zu haben.
Survival of the fittest … Hatte er das Referat nur geschrieben, um heil aus dieser Situation herauszukommen? Gab es eine Vorherbestimmung des Schicksals? War Mark Knopflers Musik vielleicht ein Anknüpfungspunkt für ein Gespräch? Sollte er Rostock darauf ansprechen? Vielleicht von dem Konzert in der O2Arena erzählen?
Jedenfalls musste er jetzt zur Toilette, das ließ sich nicht länger aufschieben. Er versuchte, sich genau daran zu erinnern, wo die einzelnen Fallen standen. Er konnte einige sehen, ein paar erahnen, wieder andere verschmolzen in der Finsternis mit dem dunklen Boden.
Er trat vorsichtig auf. Dabei hatte er das Gefühl, seine Blase könne jeden Moment einfach platzen. Die Berührung mit dem Boden machte alles nur noch schlimmer.
Eine Falle schnappte zu. Sie sprang an seinem Bein hoch. Er zuckte zurück. Er griff zwischen seine Beine. Es war feucht.
Marvin fasste den Türgriff an. Die Tür ließ sich problemlos öffnen. Er blickte in den Raum.
Rostock saß geierhaft mit hochgezogenen Schultern in einem schäbigen alten Sessel und tippte auf einem Laptop herum. Über der Sessellehne hing die Emder Zeitung. Der Fernseher lief, der Ton war aber abgestellt. Auf dem n-tvNachrichtenband die Börsenkurse. Woher die Musik kam, konnte Marvin nicht sehen. Er lokalisierte den Sound aber nah beim Fernseher.
Auf dem Tisch zwei Tassen. Ein Kaffeebecher mit dem Pilsumer Leuchtturm. Die Brandyflasche stand neben dem Handy. Wenn ich das in die Finger bekomme, habe ich gewonnen, dachte Marvin.
Rostock glotzte ihn besoffen an. Er hob den Laptop hoch und stellte ihn auf den Tisch. Er griff neben sich und hatte eine schwarze Pistole in der Hand. Das Modell kam Marvin, der sich nicht für Schusswaffen interessierte, bekannt vor. Es sah aus wie die Dienstwaffen, die die SecurityLeute so gern im Schulterholster trugen.
Ob er auf mich schießen würde, fragte Marvin sich. Er bemühte sich, nicht so verzweifelt zu klingen, wie er war, aber es trotzdem dringend zu machen.
„Ich muss mal …“
Mit der Pistole wies Rostock zu einer Tür und befahl: „Lass sie offen. Ich will dich sehen!“
Knopfler sang: My heart has never changed.
Im Badezimmer gab es eine Dusche. Eine Toilette mit einem Deckel in hellblauem flauschigem Stoffbezug. Auf der Fensterbank Toilettenpapierrollen, für die jemand Mützchen gestrickt hatte. Auf der Ablage unter dem Spiegel zwei Zahnbürsten in einem Glas und ein paar Tuben, die Marvin als Kosmetikartikel für Frauen einschätzte.
Das alles hier war nicht gerade von Reichtum gesegnet. Das Handtuch neben dem Waschbecken wirkte auf Marvin wie ein Bakterienmutterschiff.
Marvin erleichterte sich. Rostocks Blicke in seinem Rücken störten ihn dabei wenig. Er wusch sich die Hände, benutzte aber das Handtuch nicht, sondern wischte sie sich an den Hosenbeinen trocken.
Er ging langsam auf Rostock zu, sehr bemüht, keine schnelle, verdächtige Bewegung zu machen.
Rostock hatte etwas Brütendes an sich. Irgendetwas lief ganz und gar nicht so, wie er es gehofft hatte. Er sah aus wie einer, der sich betrogen fühlte.
Marvin versuchte, eine Gesprächsbrücke zu ihm aufzubauen: „Ich habe Mark Knopfler in Hamburg in der O2-Arena erlebt. Zusammen mit sieben oder acht Musikern.“
Zunächst hellte sich Rostocks Gesicht kurz auf. Seine Züge wurden freundlicher. „In der Schweinehalle?!“
Marvin spielte den Hocherfreuten. „Echt? Waren Sie auch da?“
Rostock verzog den Mund. „Ich hasse diese Arena! Eine Scheißakustik. Da nutzt auch der beste Musiker nichts. Wer so was baut, sollte öffentlich ausgepeitscht werden.“
Marvin hielt den Atem an. Der Mann war so unglaublich wütend, dass selbst die Erinnerung an ein so schönes Konzert ihn nicht davon abhielt, solche krassen Dinge zu sagen. Er war wütend, und irgendjemand sollte bestraft werden. Hoffentlich, dachte Marvin, kann er so Luft ablassen, bevor sich das alles gegen mich wendet.
Irgendwie führte das Gespräch nicht weiter. Marvin wollte aber über etwas Erfreuliches reden, etwas, das eine gemeinsame Grundlage schuf. Er versuchte, Vertrauen aufzubauen oder wenigstens ein bisschen Sympathie. Konnte man jemanden töten, den man nett fand?
Er sprach seine größte Angst einfach aus: „Ich kenne Ihr Gesicht. Sie müssen mich töten, stimmt’s? Deshalb sind Sie plötzlich so schroff und abweisend zu mir. Sie haben Angst, mich sonst zu nett zu finden und es dann nicht mehr zu schaffen.“
Rostock griff zur Flasche und führte sie an seine Lippen. Er trank aber nicht, sondern nutzte sie, um seine Gesten zu unterstreichen. Für Marvin sah er ein bisschen aus wie ein betrunkener Dirigent, der statt eines Taktstocks eine Branntweinflasche schwingt.
In einer Hand die Pistole, in der anderen den Brandy lachte Rostock: „So läuft das nicht, Kleiner. Viele haben mich gesehen! Da nutzt es nichts, wenn ich dich beseitige. Wir haben ganz andere Pläne …“