Das vergessene Brexit-Drama
Gespräche zwischen London und Brüssel in der Sackgasse – Unterhändler Barnier besorgt
In wenigen Monaten sollen die Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien neu geregelt sein. Doch die Differenzen scheinen derzeit unüberbrückbar.
BRÜSSEL/LONDON – Gut 100 Tage ist der Brexit her, schon wirkt er wie ein Phantom aus ferner Vergangenheit. Die Corona-Krise hat alles verdrängt. Doch im Schatten des großen Dramas spielt sich ein kleineres ab. Schon zum dritten Mal seit Anfang März brüteten diese Woche die Unterhändler der Europäischen Union und Großbritanniens darüber, wie die frisch geschiedenen Partner künftig zusammenarbeiten können. Ziel ist, den Schaden für die eng verwobene Wirtschaft so klein wie möglich zu halten. Aber die Ergebnisse sind ernüchternd.
Worüber wird überhaupt verhandelt
Es geht um ein Handelsabkommen, aber auch um Fischereirechte, Markenrechte, Freizügigkeit, gemeinsame Verbrecherjagd, Datenschutz, Klimaschutz, Energieversorgung,
die Sicherung von Flugund Bahnverkehr – kurzum: um alles, was seit dem Brexit Ende Januar nicht mehr geregelt ist. Bislang hat sich nur deshalb noch nichts geändert, weil bis Ende 2020 eine Übergangsphase läuft. Solange ist Großbritannien noch im europäischen Binnenmarkt und in der Zollunion und hält sich an alle EU-Regeln.
Warum ist eine neue Vereinbarung wichtig
Ohne neue Vereinbarungen droht Ende des Jahres ein harter Bruch. Nach den Regeln der Welthandelsorganisation müssten zum Beispiel Zölle eingeführt werden, nach EURegeln wären strikte Warenkontrollen nötig. Und Hunderte Rechtsfragen wären ungeklärt. Für die Wirtschaft beider Seiten ist das ein Schreckenszenario mitten in der Corona-Krise.
Warum ist die EU unzufrieden
EU-Unterhändler Michel Barnier zeigte sich am Freitag nach Abschluss der Verhandlungsrunde
besorgt. „Ich bin nicht optimistisch“, sagte der Franzose. Er wirft Großbritannien eine Blockadehaltung bei wichtigen Themen vor. Dazu zählt das sogenannte Level Playing Field, also die Forderung nach gleichen Wettbewerbsbedingungen zu beiden Seiten des Ärmelkanals. Die EU bietet ein Handelsabkommen ohne Zölle und Mengenbegrenzungen, verlangt dafür aber die Einhaltung gleicher Umwelt- und Sozialstandards. Weitere Knackpunkte sind für die EU Fischereirechte in britischen Gewässern und eine
Rolle des Europäischen Gerichtshofs zur Überwachung der Vereinbarungen beider Seiten.
Was will Großbritannien erreichen
Die Briten haben bei allen drei Punkten rote Linien gezogen. Sie verlangen, dass die EU ihre Forderung nach einem „Level Playing Field“fallen lässt. Das schränke ihre Souveränität ein, selbst Regeln zu setzen und sich von EU-Vorgaben zu befreien. Zudem sei es weit mehr, als die EU bisher von anderen Handelspartnern gefordert habe. Sie wollen den Zugang zu ihren reichen Fischgründen nach eigenem Gutdünken regeln. Und sie wollen den Europäischen Gerichtshof nicht als Schiedsrichter anerkennen.
Warum hat London keine Angst vorm harten Bruch
Premierminister Boris Johnson setzt offenbar darauf, mit einer Mischung aus Pokern und Zeitdruck doch noch mehr Zugeständnisse aus Brüssel zu erreichen. Zu gegebener Zeit werde sich Johnson selbst einschalten, hieß es kürzlich aus Verhandlungskreisen in London. Für Juni ist ein Gipfel beider Seiten geplant.