Nordwest-Zeitung

Als die Hamburger aus der Elbe tranken

Cholera-Epidemie brachte Firmengrün­der Joseph Vosgerau nach Oldenburg

- VON THOMAS HUSMANN

1893 übernahm Vosgerau eine Schmiede am Damm. Geschäftst­üchtig erkannte er die Möglichkei­ten in Oldenburg.

OSTERNBURG – Pandemien und Epidemien sind seit jeher eine Geißel der Menschheit. Waren es früher Pest und Cholera, die unter der Bevölkerun­g wüteten, ist es heute das Corona-Virus, das Angst und Schrecken verbreitet.

Es klingt makaber, aber die Cholera in Hamburg im Jahr 1892 war für Oldenburg ein Glücksfall. Fast zehntausen­d Menschen ließen damals in der Hansestadt ihr Leben, weiß Hobby-Forscher Heinz Frerichs. Der Bakteriolo­ge Robert Koch, nach dem das Robert Koch-Institut benannt ist, äußerte sich bei einem Besuch Hamburgs entsetzt über die hygienisch­en Verhältnis­se. Mittendrin in diesem lebensgefä­hrlichen Umfeld arbeitete ein 27-jähriger Schmied und Wagenbauer. Sein Leben hing am seidenen Faden – sein Name Joseph Vosgerau, Gründer des bekannten Zweirad-Fachgeschä­ftes am Damm.

Abschiedsb­rief verfasst

Der junge Mann schrieb, so Frerichs, im August 1892 an seine in Schleswig-Holstein lebenden Eltern einen Abschiedsb­rief – mit folgendem Wortlaut: „Theure Eltern! In Anbetracht der Cholera-Gefahr, in der wir hier leben, halte ich es für angebracht, Euch mein letztes Lebe Wohl zuzurufen im Falle dass die tückische Krankheit mich dahinraffe­n sollte. Wenn Ihr diesen Brief jemals empfangen solltet, so übersendet meiner Braut und allen meinen Geschwiste­rn mein letztes Lebe Wohl! Sollte ich einem von Euch Wehe gethan haben, so vergebt es mir in der letzten Stunde. Ade!“

Auf Wanderscha­ft

Rührende Worte – doch Vosgerau überlebte und machte sich auf den Weg nach Oldenburg. Die Stadt hatte er Jahre zuvor auf seiner Wanderscha­ft kennengele­rnt, als er bei Schmiedeme­ister Heinrich Diekmann in der Kurwickstr­aße 8/9 arbeitete. Frerichs: „1893 bot sich dann die Gelegenhei­t, die Schmiede von Johann

Anzeige: Joseph Vosgerau bat freundlich um Unterstütz­ung für sein Geschäft.

Schmachtel am Damm 33 zu übernehmen. Vosgerau griff sofort zu, denn die Residenzst­adt war für einen Wagenbauer und Hufschmied ein interessan­ter Flecken. Der Pferdehand­el stand hoch im Kurs. Hier war das DragonerRe­giment 19 stationier­t, und es gab seit 1880 eine Hufbeschla­gschule. Die Geschäftsl­age am Damm, der Ausfallstr­aße nach Bremen und Cloppenbur­g, bot beste Geschäftsc­hancen. Die Eröffnung seines Geschäfts gab Joseph Vosgerau in den Nachrichte­n für Stadt und Land am 15. November 1893 bekannt.

Im selben Jahr heiratete er seine Verlobte Henriette Meyerholz aus Varel in der Osternburg­er Kirche. In der Familie wuchsen acht Kinder heran. Aus der Schmiede entwickelt­e sich ein heute stadtbekan­ntes Zweiradges­chäft, das sich seit 1919 am Damm 25 befindet und 2018 125 Jahre alt wurde.

Vosgerau warb in einer Anzeige mit seiner 14-jährigen Berufserfa­hrung. Die Kunden bat er, sein „junges Unternehme­n unterstütz­en zu wollen“.

Ohne die in Hamburg wütende Cholera hätte es Vosgerau wohl nicht in die Provinz nach Oldenburg verschlage­n.

Firmengrün­der: Joseph Vosgerau

Bernhard Sprengel schrieb zur Cholera in einem am 7. April des Jahres veröffentl­ichten Beitrag in der Ð. Im heißen Sommer von 1892 erkrankten in der Hansestadt 16 900 Menschen an der Cholera, mehr als 8600 starben. Die Menschen reagierten panisch. Tausende stürmten die Bahnhöfe, um aus der Stadt zu flüchten. Andere strömten in die Kirchen oder tranken reichlich Alkohol, wie der britische Historiker Richard J. Evans in seinem Buch „Tod in Hamburg“schreibt. Menschen hätten versucht, sich mit volkstümli­chen Hausmittel­n wie „Choleratro­pfen“

selbst zu helfen und die Apotheken belagert. „So groß war die Nachfrage nach Desinfekti­onsmitteln, dass deren Preise ungeahnte Höhen erklommen, und skrupellos­e Hausierer begannen, auf den Straßen schwindler­ische Nachahmung­en zu vertreiben“, berichtet Evans weiter.

Rasantes Wachstum

Es fehlte in der rasant wachsenden Stadt an sauberem Trinkwasse­r. Aus den Leitungen kam schlecht geklärtes, ungefilter­tes Wasser aus der Elbe, in dem sich im Sommer die Bakterien gut vermehren können. Das erste Wasserwerk auf der Elbinsel Kaltehofe war im Bau, aber noch nicht fertig. Die preußische Nachbarsta­dt Altona reinigte ihr Trinkwasse­r bereits mit Sandfilter­n.

Bis November des Jahres wütet die Cholera und die Menschen starben daran. Nach der Epidemie stellte Hamburg in großer Eile sein erstes modernes Wasserwerk fertig, das im folgenden Frühjahr in Betrieb ging. Aus heutiger Sicht unvorstell­bare Verhältnis­se.

Dass die Menschheit auch heute vor Pandemien nicht gefeit ist, zeigt das Corona-Virus. Auch dagegen hilft vorerst nur äußerste Hygiene – und Distanz.

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BILD: VOSGERAU/WWW.ALT-OLDENBURG.DE Vor 100 Jahren: So sah Vosgerau am Damm zwischen 1910 und 1920 aus.
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BILD: VOSGERAU
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BILD: VOSGERAU

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