Die kleine Form kommt groß heraus
Orchester warten auf klare Vorgaben – Forschungen und Spekulationen zum Thema Abstand
Das Oldenburgische Staatsorchester plant erst einmal mit „GeisterKammerkonzerten“. Am 1. Mai setzte das Europakonzert in Berlin einen Maßstab.
OLDENBURG/BERLIN – Den ersten Einsatz von Joaquim Palet lassen die Hühner im Garten des Staatsorchester-Solohornisten gelassen über sich ergehen. Beim nächsten Einwurf im Menuett BeethovenSeptetts stieben sie wild auseinander. Ist er ihnen etwa näher an die Federn gerückt als aktuell geboten?
In dieser Szene eines Videos auf der Seite des Oldenburgischen Staatstheaters halten die Musikerinnen und Musiker natürlich Abstand – und dokumentieren gerade damit, wie gern sie ihrem Publikum wieder näherkämen. Alle treten in häuslicher Umgebung auf und umgarnen die Betrachter und Hörer mit einer Collage. Ob das Staatsorchester in diesem Jahr noch einmal live in geschlossener
Formation spielen könnte, ist so unwahrscheinlich wie ein hoher Rang im Lotto. „So Ellbogen an Ellbogen im Graben zu sitzen wie bei Wagner“, sagt Palet, „das wird es lange nicht mehr geben.“
Nähe nicht gleich Nähe
Nähe scheint derzeit aber nicht gleich Nähe zu sein. Mit einem Forte-Einwurf zielen gerade erst die sieben großen Berliner Orchester auf die Kulturpolitik. Sie haben an der Charité eine wissenschaftliche Einschätzung fertigen lassen, nach welchen Bedingungen zusammen geprobt und gespielt werden könne. 1,5 Meter Abstand sollten Streicher unter sich halten, zwei Meter die Bläser, grob gesagt. Das seien „wichtige Grundlagen für den Proben- und Konzertbetrieb“.
Wenn es mal so einfach wäre! „Wir hätten für Niedersachsen gern klare Vorgaben“, fordert der Hornist. Es wird viel geforscht und viel spekuliert. Bis jetzt müssen erst einmal 20 Quadratmeter pro Instrument zugrunde gelegt werden. „Wenn jemand nach vorn bläst wie die Flötistin, gelten dorthin zwölf Meter“, moniert Palet. Für die Hörner wären es dann zwölf Meter nach hinten, für die Tuba zwölf nach oben. „Es ändert sich fast täglich. Von den Bamberger Sinfonikern wissen wir, dass weniger nötig ist.“
Improvisation mag in der Politik hinderlich sein, für Orchestermitglieder ist sie herausfordernd. „Wir fühlen uns nicht demotiviert“, erklärt Cordula Ramke. Es sei eine große Aufgabe, Theater am Leben zu erhalten, so die Bratscherin. Dazu muss jetzt die kleine Form groß herauskommen. Ramke zählt zu den gefragten Ideengeberinnen. Zusammen mit Cellist Norbert Körner stellt sie seit Jahren die Besetzungen und Programme der Kammerkonzerte im Kleinen Haus zusammen.
Experiment gelungen
„Es geht viel mehr, als man denkt“, motiviert Ramke. Im großen Rahmen war das am 1. Mai beim Europakonzert der Berliner Philharmoniker zu erleben. In der publikumsfreien Philharmonie spielten sie Gustav Mahlers 4. Sinfonie. Nun gut, Streichquintett, drei
Bläser, zwei Klaviere, Schlagzeug, Harmonium und eine Sopranistin gehen eben nicht als Gesamt-Philharmoniker durch. „War schon ungewohnt“, räumt die Geigerin ein, „aber musikalisch stark, und anregend.“
In Oldenburg sollen Teile der nicht mehr ausgeführten Kammerkonzerte als „Geisterkonzerte“vom Lokalsender Oeins aufgezeichnet und gezeigt werden. Das Video mit dem Septett und anderen Werken weckt zumindest eine verhaltene Begeisterung. „Es läuft alles auf freiwilliger Basis“, stellt Cordula Ramke klar, „mehr als die Hälfte der Orchestermitglieder würden dafür den Urlaub aufgeben.“
Marc Froncoux hat eine besondere Blickweise auf die Zwänge. „Man muss sich daran gewöhnen – aber hoffen, dass man sich eben nicht daran gewöhnen muss“, sagt der Cellist der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen und Dirigent des Oldenburger Kammerorchesters.
Zehn Meter vom 1. Geiger entfernt zu sitzen wie bei der Aufzeichnung aus Berlin, das sei für die Abstimmung schon knifflig. „Man kann sich als
Ensemble auch in einen Kreis setzen. Da sieht man sich gut, und die Hörer haben eine neue Perspektive“, erläutert Froncoux. Es gibt derzeit mehr Ideen als Live-Konzerte.
Maximal 110 Besucher?
Von demnächst erst einmal 110 Besuchern im Großen Haus gehen die StaatstheaterVorstellungen aus. Es gibt eine ungeahnte Fülle von großer Musik in reduzierter Besetzung. Selbst die gewaltigen Sinfonien der Klassik kamen einst in Bearbeitungen vom Trio bis zum Nonett unters Volk. Opern fanden Eingang in bürgerliche Kreise durch Bläser-Oktette. Von Igor Strawinskis „Geschichte vom Soldaten“bis zu „Meister Pedros Puppenspiel“von Manuel de Falla halten spätere Komponisten-Größen Werke im MidiFormat vor.
Überhaupt kein Problem mit irgendwelchen Abständen hat Solotrompeter Matthias Elsäßer. Er spielt im TheaterVideo alle vier Trompetenund die beiden Hornstimmen einer Trompeten-Polka übereinander. Da ist er ganz einfach sich selbst der Nächste.