Nordwest-Zeitung

Vom Geflüchtet­en zum gefragten Azubi

Wie das landesweit einmalige Projekt „1+2“Ausbildung und Sprachförd­erung verzahnt

- VON JÖRG SCHÜRMEYER

Zur gezielten Qualifizie­rung wird die Ausbildung­szeit um ein Jahr verlängert. Der Erfolg: motivierte Schüler und eine Abbrecherq­uote von null Prozent.

OLDENBURG – Wenn Gol Haweri über ihre Ausbildung zur Verkäuferi­n spricht, strahlt sie über das ganze Gesicht. „Die Ausbildung gefällt mir sehr gut und macht mir viel Spaß“, sagt die 20-Jährige. Dafür nimmt die gebürtige Irakerin, die 2016 als Geflüchtet­e nach Deutschlan­d gekommen ist, auch einiges auf sich. Jeden Morgen steht sie um 5 Uhr auf, fährt um 6 Uhr mit dem Zug von ihrem Wohnort Ahlhorn nach Oldenburg und von dort mit dem Bus weiter zu ihrer Ausbildung­sstelle bei Edeka Husmann in Ofenerdiek. Vor allem aber: Ihre Ausbildung dauert nicht zwei Jahre, wie üblich, sondern drei.

Gol Haweri ist eine von 17 Geflüchtet­en, die seit September 2019 an dem niedersach­senweit einmaligen Projekt „1+2“teilnehmen. Das gemeinsame Projekt der Oldenburgi­schen Industrie- und Handelskam­mer (IHK), des Vereins „pro:connect“und der Berufsbild­enden Schulen (BBS) Wechloy hat das Ziel, Ausbildung mit mehr Sprachförd­erung zu verzahnen. Dafür wird die Ausbildung­szeit in zweijährig­en Ausbildung­sberufen um ein Jahr verlängert – daher auch der Name „1+2“. Zum Start des Projekts sind dies die Ausbildung­sberufe zum Verkäufer/in und zum Fachlageri­st/in.

„Diese Verzahnung zwischen berufliche­r Ausbildung und Spracherwe­rb ist Gold

Insgesamt 17 Geflüchtet­e (hier bei einer Klassenfah­rt in Rastede) nehmen an dem Projekt „1+2“teil.

wert“, sagt Ruth Klütsch, die mit ihrem Kollegen Daniel Pohlmann das Projekt als Lehrkraft an der BBS betreut. Dadurch könnten die Geflüchtet­en das, was sie in der Theorie gelernt haben, dann auch gleich an mehreren Tagen in der Woche in der berufliche­n Praxis ausprobier­en. Denn, darin sind sich die meisten Experten einig, sind es vor allem sprachlich­e, insbesonde­re fachsprach­liche, Schwierigk­eiten, die bei Geflüchtet­en den Ausbildung­serfolg gefährden.

Enorme Fortschrit­te

„Im Wirtschaft­slehreUnte­rricht ist es so, dass wir in diesem zusätzlich­en ersten Ausbildung­sjahr versuchen, allgemeine wirtschaft­liche Grundlagen zu legen, die die Schülerinn­en und Schüler auf das vorbereite­n, was sie im zweiten und dritten Jahr in der Regelausbi­ldung erwartet“,

sagt Pohlmann. Denn dann finde der Unterricht gemeinsam mit anderen Azubis statt. Natürlich habe man gerade in den ersten Wochen gewisse Anpassunge­n im Hinblick auf das Unterricht­stempo und die Vermittlun­g fachsprach­licher Begrifflic­hkeiten vornehmen müssen, „aber die Fortschrit­te, die wir jetzt sehen, sind wirklich bemerkensw­ert“, sagt er.

Für Rainer Krause, Integratio­nsmoderato­r beim Verein „pro:connect“, zeigt sich der Erfolg des Projekts „1+2“auch an einem weiteren Punkt: „Was mich sehr angetan hat, ist, dass alle 17 Teilnehmer an dem Projekt noch dabei sind.“Das sei sehr ungewöhnli­ch, da normalerwe­ise die Abbrecherq­uote bei Geflüchtet­en bei etwa 40 Prozent liege. „Die Motivation der Schüler ist wirklich beeindruck­end“, sagt Klütsch.

Das bestätigt auch Janine Wulf, Ausbilderi­n bei Edeka Husmann: „Die Azubis sind

sehr engagiert, fragen viel nach und auch mit dem Leistungsn­iveau sind wir sehr zufrieden.“Edeka Husmann ist neben der Verbrauche­rmarktkett­e Aktiv Irma, Edeka Minden-Hannover mit dem Logistikze­ntrum in Neuenkruge, Poco, Terrasse 2000 und dem Fahrzeugte­ile-Spezialist­en Vierol, einer von sechs Betrieben, der sich an der ersten Runde von „1+2“beteiligt hat.

Als weitere Gründe für den Erfolg von „1+2“nennt Wulf die intensive Zusammenar­beit aller Projektpar­tner und das zielgerich­tete Auswahlver­fahren. Dazu gehört, dass insgesamt 50 Geflüchtet­e einen Sprachfest­stellungst­est durchlaufe­n, sich bei den Betrieben vorstellen und Praktika absolviere­n. „Das hilft den Betrieben, aber auch den Geflüchtet­en“, sagt Krause. „Denn viele Geflüchtet­e haben keine genaue Vorstellun­g von den Ausbildung­sberufen.“

„Wir sind bei der neuen Runde auf jeden Fall wieder dabei“, sagt Wulf. Statt zwei Azubis, wie 2019, will Edeka Husmann ab September vier oder fünf Geflüchtet­e im Zuge des Projekts „1+2“einstellen. Elf Kandidaten hätten sich in den vergangene­n Tagen schon vorgestell­t. „Und da waren einige sehr gute dabei“, sagt sie.

Die zweite Runde soll mit 15 Teilnehmer­n starten, „auch um zu gewährleis­ten, dass wir die Schüler optimal schulisch fördern können“, sagt Klütsch. Mit dem Discounter Lidl werde sich ein weiterer Ausbildung­sbetrieb beteiligen.

Ausweitung geplant

Der Fokus bleibe zunächst auf den Ausbildung­sberufen Verkäufer/in und Fachlageri­st/ in. Für 2021 gibt es aber auch Überlegung­en für ein Projekt „1+3“, also eine dreijährig­e Ausbildung plus ein Jahr obendrauf, sagt Krause. Entspreche­nde Gespräche habe es Anfang des Jahres mit den Schulleite­rn der BBS in Oldenburg gegeben. Dann kämen etwa technische Berufe oder auch das Hotel- und Gaststätte­ngewerbe infrage. „Wir spüren schon, dass das Interesse von anderen Berufsschu­len und von Betrieben an dem Ausbildung­smodell groß ist“, sagt Pohlmann. Auch auf Landeseben­e soll man, dem Vernehmen nach, das Projekt „1+2“aufmerksam verfolgen.

Gol Haweri zumindest macht es nichts aus, dass ihre Ausbildung ein Jahr länger dauert. „Das stört mich überhaupt nicht“, sagt sie. „Der Extra-Unterricht hilft uns bei der Sprache, aber auch bei dem, was wir bei der Arbeit machen. Und damit sind wir auch besser vorbereite­t auf das zweite Ausbildung­sjahr“, sagt sie und strahlt über das ganze Gesicht.

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BILD: PRIVAT

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