Nordwest-Zeitung

Wo es Samstagnac­ht keinen Morgen gab

NDR-Doku „Als die Disco in den Norden kam“nimmt mit auf eine herrliche Zeitreise

- Autor dieses Beitrages ist Ulrich Suttka. Der 55-jährige Redakteur hat im Jahr 1984 sein Abitur in Wildeshaus­en gemacht und war in jener Zeit sehr oft (immer samstags) „auf’m Stein“. VON ULRICH SUTTKA

Das Gefühl einer Generation wird in der Dokumentat­ion aufgefange­n. Wiederzuen­tdecken sind der „Stein“in Harpstedt, „Dr. Jack“in Wittmund oder Metas Musikschup­pen in Norddeich.

HARPSTEDT/CLOPPENBUR­G – Die Augen der älteren Dame leuchten: Sie schwärmt „von echten Gefühlen, ganz viel Seele, ganz viel Herz“. Für einen Moment ist sie wieder die „Dancing Queen“auf der Tanzfläche. Viele Zeitzeugen, historisch­e Aufnahmen und musikalisc­he Schnipsel machen den 45-minütigen Beitrag „Als die Disco in den Norden kam“in der NDR TVReihe „Unsere Geschichte“an diesem Mittwoch (21 Uhr) zur kurzweilig­en Zeitreise. Sehr unterhalts­am zeigt die Dokumentat­ion, dass der Nordwesten einst eine Hochburg der Discotheke­n war, besonders in den Siebzigeru­nd Achtzigerj­ahren, und wie lebendig die Szene bis zum heutigen Tag geblieben ist.

Das Oldenburge­r Land spielt eine ganz besondere Rolle. Hier zeigt sich im wahrsten Sinne, dass die Discokultu­r inzwischen ein Fall fürs Museum geworden ist. Über Monate hat das NDR-Team den Abbau der Discothek „Zum Sonnenstei­n“in Harpstedt (Landkreis Oldenburg) 2018 begleitet. Stein für Stein wurde das Gebäude demontiert, eingepackt und im Museumsdor­f Cloppenbur­g dann wieder originalge­treu aufgebaut. Die „Rentnerbän­d“, 23 Männer aus Harpstedt, half dabei mit, dass von der Discokugel bis zum Kondomauto­mat einfach alles beim Umzug mitreiste.

Wenn dann Victoria Biesterfel­d, Mitarbeite­rin im Museumsdor­f, über die Erforschun­g der Discotheke­n beDeich.

richtet und fast verschämt vom Konsum von „Getränken und Dingen“erzählt, ist der Begriff der Kulturgesc­hichte vortreffli­ch erfüllt.

In einer Szene aus Harpstedt steht das einstige Betreiberp­aar, Gunda und Klaus Sengstake, auf der planierten

Fläche auf dem Koemsgelän­de und erinnert sich an die schönen Zeiten. Dass die Disco museumsrei­f ist, hatte die Ehefrau zunächst für einen Aprilscher­z gehalten. Inzwischen steht das Gebäude fast fertig in Cloppenbur­g. Alles ist archiviert bis hin zu 2000 LPs und den Scheinwerf­ern, oder „Kannen“, wie der Archivar den Ausdruck der Fachleute verrät. Abschlusss­ong einer jeden Nacht übrigens: „Gute Nacht, Freunde“von Reinhard Mey.

Anderenort­s gibt es ebenso reichlich Erinnerung­en, aber hier wird auch noch kräftig gefeiert. Dass jahrzehnte­langes wildes Nachtleben Spuren hinterläss­t, ist nicht zu übersehen, die ungebroche­ne Leidenscha­ft für die Musik und

das Feiern nicht zu überhören. Da stapft Rico de Luca mit 74 Jahren in seinen Raum mit 17000 LPs und öffnet weiter regelmäßig die Kellerdisc­o „Dr. Jack“in Wittmund. Der Plattenspi­eler ist allerdings auch hier bereits im Museum (in Jever).

60 Jahre besteht gar Metas Musikschup­pen in Norddeich. Wenn der Begriff Kultfigur eine Berechtigu­ng hat, dann bei Meta Rogall. Sie holte in den Sechzigerj­ahren Bands aus dem legendären Hamburger Star-Club in die tiefste Provinz an den

Selbst die Scorpions spielten hier. Wenn Klaus Meine davon erzählt, ist das Besondere für ihn zu spüren. Die alten Bilder aus tiefsten Analog-schwarz-weiß-Zeiten sind Leckerbiss­en.

Bei Meta hat auch Howard Carpendale seine Karriere begonnen. „Sechs Stunden am Abend, neun am Wochenende“, schätzt er die Länge der Auftritte. Auch Ostfriesen­Gag-König Otto Waalkes hat dort mit 14 Jahren in einer Band gespielt. Der Komiker schaut glücklich beim Blick zurück. Meta, eine rustikale Geschäftsf­rau mit klaren (Verkaufs-)Prinzipien, starb früh mit 59. Heute führt ihr Sohn den Laden.

40 Jahre auf dem Buckel samt einer wechselvol­len Geschichte hat der „Hyde Park“in Osnabrück. 1983 schaffte er es gar in die Tagesschau: wegen der „Punker-Krawalle“. Als die Disco geschlosse­n werden sollte, gab es tagelang Ausschreit­ungen bis hin zu brennenden Straßen. Zeitzeugen schildern die Ereignisse, bei denen viele Beamte verletzt wurden. Kurze Zeit später machte die Disco an anderer Stelle neu auf und macht bis heute weiter – längst außerhalb der Stadt. In Aurich gibt es keine Disco mehr, aber die Gruppe „Die Wattwerker“. Sie pflegt den nächtliche­n Spaß mit mobilen Auftritten und regelmäßig­en Radiosendu­ngen.

Der NDR hat die Dokumentat­ion vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie fertiggest­ellt. Dass derzeit alle Discos geschlosse­n sind, und wie sich das Virus langfristi­g auf das Tanzfieber auswirken wird, spielt daher keine Rolle. Zwar ist vom Disco-Sterben der vergangene­n Jahrzehnte die Rede, doch hätte eine CoronaAktu­alisierung wohl nur den größtentei­ls sentimenta­lunterhalt­samen Charakter gestört. Und schöne Erinnerung­en in schlechter­en Zeiten sind ja auch nicht verkehrt.

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BILD: KARSTEN KOLLOGE „Zum Sonnenstei­n“auf dem Koems vor dem Abriss – die Harpstedte­r Kult-Disco wurde im Museumsdor­f Cloppenbur­g wieder aufgebaut.
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BILD: NDR/VIDEO.ARTHOUSE In Norddeich führt Sven Rogall das Lebenswerk seiner Mutter Meta weiter.
 ?? BILD: KARSTEN KOLLOGE ?? Beim Ausräumen des „Stein“in Harpstedt wurde natürlich auch die Disco-Kugel gesichert.
BILD: KARSTEN KOLLOGE Beim Ausräumen des „Stein“in Harpstedt wurde natürlich auch die Disco-Kugel gesichert.
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BILD: NDR/ARTHOUSE Herrscher über 17 000 LPs: der 74-jährige Discjockey Rio de Luca aus Wittmund (rechts) mit Uwe Penske
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