Wo es Samstagnacht keinen Morgen gab
NDR-Doku „Als die Disco in den Norden kam“nimmt mit auf eine herrliche Zeitreise
Das Gefühl einer Generation wird in der Dokumentation aufgefangen. Wiederzuentdecken sind der „Stein“in Harpstedt, „Dr. Jack“in Wittmund oder Metas Musikschuppen in Norddeich.
HARPSTEDT/CLOPPENBURG – Die Augen der älteren Dame leuchten: Sie schwärmt „von echten Gefühlen, ganz viel Seele, ganz viel Herz“. Für einen Moment ist sie wieder die „Dancing Queen“auf der Tanzfläche. Viele Zeitzeugen, historische Aufnahmen und musikalische Schnipsel machen den 45-minütigen Beitrag „Als die Disco in den Norden kam“in der NDR TVReihe „Unsere Geschichte“an diesem Mittwoch (21 Uhr) zur kurzweiligen Zeitreise. Sehr unterhaltsam zeigt die Dokumentation, dass der Nordwesten einst eine Hochburg der Discotheken war, besonders in den Siebzigerund Achtzigerjahren, und wie lebendig die Szene bis zum heutigen Tag geblieben ist.
Das Oldenburger Land spielt eine ganz besondere Rolle. Hier zeigt sich im wahrsten Sinne, dass die Discokultur inzwischen ein Fall fürs Museum geworden ist. Über Monate hat das NDR-Team den Abbau der Discothek „Zum Sonnenstein“in Harpstedt (Landkreis Oldenburg) 2018 begleitet. Stein für Stein wurde das Gebäude demontiert, eingepackt und im Museumsdorf Cloppenburg dann wieder originalgetreu aufgebaut. Die „Rentnerbänd“, 23 Männer aus Harpstedt, half dabei mit, dass von der Discokugel bis zum Kondomautomat einfach alles beim Umzug mitreiste.
Wenn dann Victoria Biesterfeld, Mitarbeiterin im Museumsdorf, über die Erforschung der Discotheken beDeich.
richtet und fast verschämt vom Konsum von „Getränken und Dingen“erzählt, ist der Begriff der Kulturgeschichte vortrefflich erfüllt.
In einer Szene aus Harpstedt steht das einstige Betreiberpaar, Gunda und Klaus Sengstake, auf der planierten
Fläche auf dem Koemsgelände und erinnert sich an die schönen Zeiten. Dass die Disco museumsreif ist, hatte die Ehefrau zunächst für einen Aprilscherz gehalten. Inzwischen steht das Gebäude fast fertig in Cloppenburg. Alles ist archiviert bis hin zu 2000 LPs und den Scheinwerfern, oder „Kannen“, wie der Archivar den Ausdruck der Fachleute verrät. Abschlusssong einer jeden Nacht übrigens: „Gute Nacht, Freunde“von Reinhard Mey.
Anderenorts gibt es ebenso reichlich Erinnerungen, aber hier wird auch noch kräftig gefeiert. Dass jahrzehntelanges wildes Nachtleben Spuren hinterlässt, ist nicht zu übersehen, die ungebrochene Leidenschaft für die Musik und
das Feiern nicht zu überhören. Da stapft Rico de Luca mit 74 Jahren in seinen Raum mit 17000 LPs und öffnet weiter regelmäßig die Kellerdisco „Dr. Jack“in Wittmund. Der Plattenspieler ist allerdings auch hier bereits im Museum (in Jever).
60 Jahre besteht gar Metas Musikschuppen in Norddeich. Wenn der Begriff Kultfigur eine Berechtigung hat, dann bei Meta Rogall. Sie holte in den Sechzigerjahren Bands aus dem legendären Hamburger Star-Club in die tiefste Provinz an den
Selbst die Scorpions spielten hier. Wenn Klaus Meine davon erzählt, ist das Besondere für ihn zu spüren. Die alten Bilder aus tiefsten Analog-schwarz-weiß-Zeiten sind Leckerbissen.
Bei Meta hat auch Howard Carpendale seine Karriere begonnen. „Sechs Stunden am Abend, neun am Wochenende“, schätzt er die Länge der Auftritte. Auch OstfriesenGag-König Otto Waalkes hat dort mit 14 Jahren in einer Band gespielt. Der Komiker schaut glücklich beim Blick zurück. Meta, eine rustikale Geschäftsfrau mit klaren (Verkaufs-)Prinzipien, starb früh mit 59. Heute führt ihr Sohn den Laden.
40 Jahre auf dem Buckel samt einer wechselvollen Geschichte hat der „Hyde Park“in Osnabrück. 1983 schaffte er es gar in die Tagesschau: wegen der „Punker-Krawalle“. Als die Disco geschlossen werden sollte, gab es tagelang Ausschreitungen bis hin zu brennenden Straßen. Zeitzeugen schildern die Ereignisse, bei denen viele Beamte verletzt wurden. Kurze Zeit später machte die Disco an anderer Stelle neu auf und macht bis heute weiter – längst außerhalb der Stadt. In Aurich gibt es keine Disco mehr, aber die Gruppe „Die Wattwerker“. Sie pflegt den nächtlichen Spaß mit mobilen Auftritten und regelmäßigen Radiosendungen.
Der NDR hat die Dokumentation vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie fertiggestellt. Dass derzeit alle Discos geschlossen sind, und wie sich das Virus langfristig auf das Tanzfieber auswirken wird, spielt daher keine Rolle. Zwar ist vom Disco-Sterben der vergangenen Jahrzehnte die Rede, doch hätte eine CoronaAktualisierung wohl nur den größtenteils sentimentalunterhaltsamen Charakter gestört. Und schöne Erinnerungen in schlechteren Zeiten sind ja auch nicht verkehrt.