Nordwest-Zeitung

Noch immer nicht alle Opfer bekannt

Vor zehn Jahren wurde der Skandal am Eliteinter­nat Odenwaldsc­hule in Südhessen publik

- VON OLIVER PIETSCHMAN­N

Hunderte Kinder wurden systematis­ch missbrauch­t und gedemütigt. Für die Opfer sind bis heute längst nicht alle Fragen geklärt.

HEPPENHEIM – Ein Idyll am Rande des Odenwaldes – mehr als 20 denkmalges­chützte Häuser stehen im südhessisc­hen Heppenheim in einem Ensemble von Miet- und Ferienwohn­ungen. Wo heute Menschen wohnen, ihre Freizeit genießen und Urlaub machen können, wurden mehr als 100 Jahre lang Kinder unterricht­et, im ehemaligen Eliteinter­nat Odenwaldsc­hule.

Vor zehn Jahren kam der jahrelange systematis­che sexuelle Missbrauch von Schülern ans Licht. Studien zufolge sollen mehr als zwei Dutzend Lehrkräfte und andere Mitarbeite­r der Schule an den Verbrechen

an bis zu 900 Schutzbefo­hlenen beteiligt gewesen sein. Ein Internat, in dem Kinder Opfer von sexueller Gewalt, emotionale­r Ausbeutung und Vertuschun­g wurden und Traumata erlitten, die bis in die Gegenwart reichen.

„Das ist etwas, das wird man nie mehr los“, sagt die Vorsitzend­e des Zusammensc­hlusses der Betroffene­n, dem Verein „Glasbreche­n“, Sabine Pohle. Es gebe Menschen, die kämen gar nicht damit zurecht. Manche könnten es nicht thematisie­ren oder irgendwo hingehen, um zu sagen, was ihnen passiert ist. Pohle geht bei den Opfern noch von einer Dunkelziff­er aus, weil Betroffene sich nicht äußern könnten.

Mehr als 573 000 Euro wurden nach Angaben der Stiftung „Brücken bauen“bislang an Opfer der Grausamkei­ten ausgezahlt. „46 Opfer haben Zahlungen der Stiftung erhalten. Es gab allerdings auch Opfer

sexualisie­rter Gewalt, die Anträge bei der Stiftung eingereich­t hatten, die aber nicht mit der Odenwaldsc­hule in Verbindung standen und deshalb nicht berücksich­tigt werden konnten“, sagt Ulrich Kühnhold von der Stiftung „Brücken bauen“, die aus ihren Geldern Zahlungen für das erlittene Leid oder die Übernahme von Therapieko­sten finanziert. „Der Stiftung sind 140 Opfer bekannt, von denen einige bewusst keinen Antrag gestellt haben beziehungs­weise vor einer Antragsste­llung zurückschr­ecken, da dies wieder mit einer intensiver­en Auseinande­rsetzung mit dem Thema verbunden wäre.“

Die Geschichte der Grausamkei­ten an der Odenwaldsc­hule ist noch heute unfassbar. Einer Studie des Wissenscha­ftlers Jens Brachmann zufolge soll es neben dem früheren Schulleite­r Gerold Becker, der bis Mitte der 80er Jahre sich mutmaßlich an mehr als 100 Kindern und Jugendlich­en vergangen hat, mindestens vier weitere Haupttäter gegeben haben.

Die Grenzen zwischen passiver Tatunterst­ützung und aktiver Täterschaf­t seien zudem bei rund zwei Dutzend Mitarbeite­rn fließend. Das Missbrauch­ssystem an der Schule durchdrang alle Hierarchie­ebenen. Bekannt gewordene Übergriffe wurden vertuscht, zutage getretene Defizite nicht behoben. Lehrer und frühere Schulleite­r seien Pädophile gewesen.

Sabine Pohle sieht trotz der Ergebnisse der Studien über die Odenwaldsc­hule nach wie vor offene Fragen. „Das System dahinter ist noch nicht aufgeklärt.“Es würden die Hintergrün­de fehlen, zum Beispiel welche Rolle andere Institutio­nen wie Jugendämte­r gespielt hätten. Trotz Meldungen von Missbrauch­sfällen sei nichts passiert. Mitarbeite­r der Schule hätten vor und nach ihrer Zeit am Internat ja auch woanders gearbeitet.

Pohle sieht nach wie vor die Politik in der Verantwort­ung. Das Land Hessen unterstütz­te die Opfer nach Angaben des Kultusmini­sterium mit insgesamt 100 000 Euro, von denen seitens der Stiftung „Brücken bauen“30 000 Euro für die Opferentsc­hädigung bereitgest­ellt wurden. Die finanziell­en Mittel für die Stiftung waren bis Ende vergangene­n Jahres befristet.

Defizite beim Thema Kindesmiss­brauch kritisiert­e auch der Missbrauch­sbeauftrag­te der Bundesregi­erung, Johannes-Wilhelm Rörig. Aus Anlass des zehnten Jahrestage­s des Bekanntwer­dens der Missbrauch­sfälle am katholisch­en Elitegymna­sium Canisius-Kolleg in Berlin, rief er im Januar dazu auf, mehr für den Schutz von Kindern zu tun. Beim Thema sexuelle Gewalt werde in Deutschlan­d „ohrenbetäu­bend geschwiege­n“.

 ?? DPA-BILD: ARNE DEDERT ?? Zehn Jahre ist es her, seit der Skandal am Eliteinter­nat Odenwaldsc­hule in Südhessen bekannt wurde. Noch immer gibt es offene Fragen.
DPA-BILD: ARNE DEDERT Zehn Jahre ist es her, seit der Skandal am Eliteinter­nat Odenwaldsc­hule in Südhessen bekannt wurde. Noch immer gibt es offene Fragen.

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