Noch immer nicht alle Opfer bekannt
Vor zehn Jahren wurde der Skandal am Eliteinternat Odenwaldschule in Südhessen publik
Hunderte Kinder wurden systematisch missbraucht und gedemütigt. Für die Opfer sind bis heute längst nicht alle Fragen geklärt.
HEPPENHEIM – Ein Idyll am Rande des Odenwaldes – mehr als 20 denkmalgeschützte Häuser stehen im südhessischen Heppenheim in einem Ensemble von Miet- und Ferienwohnungen. Wo heute Menschen wohnen, ihre Freizeit genießen und Urlaub machen können, wurden mehr als 100 Jahre lang Kinder unterrichtet, im ehemaligen Eliteinternat Odenwaldschule.
Vor zehn Jahren kam der jahrelange systematische sexuelle Missbrauch von Schülern ans Licht. Studien zufolge sollen mehr als zwei Dutzend Lehrkräfte und andere Mitarbeiter der Schule an den Verbrechen
an bis zu 900 Schutzbefohlenen beteiligt gewesen sein. Ein Internat, in dem Kinder Opfer von sexueller Gewalt, emotionaler Ausbeutung und Vertuschung wurden und Traumata erlitten, die bis in die Gegenwart reichen.
„Das ist etwas, das wird man nie mehr los“, sagt die Vorsitzende des Zusammenschlusses der Betroffenen, dem Verein „Glasbrechen“, Sabine Pohle. Es gebe Menschen, die kämen gar nicht damit zurecht. Manche könnten es nicht thematisieren oder irgendwo hingehen, um zu sagen, was ihnen passiert ist. Pohle geht bei den Opfern noch von einer Dunkelziffer aus, weil Betroffene sich nicht äußern könnten.
Mehr als 573 000 Euro wurden nach Angaben der Stiftung „Brücken bauen“bislang an Opfer der Grausamkeiten ausgezahlt. „46 Opfer haben Zahlungen der Stiftung erhalten. Es gab allerdings auch Opfer
sexualisierter Gewalt, die Anträge bei der Stiftung eingereicht hatten, die aber nicht mit der Odenwaldschule in Verbindung standen und deshalb nicht berücksichtigt werden konnten“, sagt Ulrich Kühnhold von der Stiftung „Brücken bauen“, die aus ihren Geldern Zahlungen für das erlittene Leid oder die Übernahme von Therapiekosten finanziert. „Der Stiftung sind 140 Opfer bekannt, von denen einige bewusst keinen Antrag gestellt haben beziehungsweise vor einer Antragsstellung zurückschrecken, da dies wieder mit einer intensiveren Auseinandersetzung mit dem Thema verbunden wäre.“
Die Geschichte der Grausamkeiten an der Odenwaldschule ist noch heute unfassbar. Einer Studie des Wissenschaftlers Jens Brachmann zufolge soll es neben dem früheren Schulleiter Gerold Becker, der bis Mitte der 80er Jahre sich mutmaßlich an mehr als 100 Kindern und Jugendlichen vergangen hat, mindestens vier weitere Haupttäter gegeben haben.
Die Grenzen zwischen passiver Tatunterstützung und aktiver Täterschaft seien zudem bei rund zwei Dutzend Mitarbeitern fließend. Das Missbrauchssystem an der Schule durchdrang alle Hierarchieebenen. Bekannt gewordene Übergriffe wurden vertuscht, zutage getretene Defizite nicht behoben. Lehrer und frühere Schulleiter seien Pädophile gewesen.
Sabine Pohle sieht trotz der Ergebnisse der Studien über die Odenwaldschule nach wie vor offene Fragen. „Das System dahinter ist noch nicht aufgeklärt.“Es würden die Hintergründe fehlen, zum Beispiel welche Rolle andere Institutionen wie Jugendämter gespielt hätten. Trotz Meldungen von Missbrauchsfällen sei nichts passiert. Mitarbeiter der Schule hätten vor und nach ihrer Zeit am Internat ja auch woanders gearbeitet.
Pohle sieht nach wie vor die Politik in der Verantwortung. Das Land Hessen unterstützte die Opfer nach Angaben des Kultusministerium mit insgesamt 100 000 Euro, von denen seitens der Stiftung „Brücken bauen“30 000 Euro für die Opferentschädigung bereitgestellt wurden. Die finanziellen Mittel für die Stiftung waren bis Ende vergangenen Jahres befristet.
Defizite beim Thema Kindesmissbrauch kritisierte auch der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig. Aus Anlass des zehnten Jahrestages des Bekanntwerdens der Missbrauchsfälle am katholischen Elitegymnasium Canisius-Kolleg in Berlin, rief er im Januar dazu auf, mehr für den Schutz von Kindern zu tun. Beim Thema sexuelle Gewalt werde in Deutschland „ohrenbetäubend geschwiegen“.