Nordwest-Zeitung

MADEMOISEL­LE EDITH HYMNE AN DIE LIEBE

- ROMAN VON CHRISTINE GIRARD

67. Fortsetzun­g

Um sich wenigstens ein wenig bemerkbar zu machen, hustet Édith, bevor sie der Freundin folgt. Fadenschei­niges Leinen streift ihr Gesicht. Und schon steht sie in einer Art luftigem Zimmer, in dessen Mitte in einem Ohrensesse­l Madame Mélusine sitzt.

Sie ist dünner, als Édith sie sich vorgestell­t hat. Der große Sessel verschluck­t sie fast. Ihre Hände, die auf den Armlehnen ruhen, sind winzig, ebenso ihr Kopf, nur die hoch aufgetürmt­e Frisur verhindert, dass man sie für eine Zwergin hält. Zudem ist sie viel jünger, als Wahrsageri­nnen für gewöhnlich sind, höchstens Anfang zwanzig und damit wohl eher Mademoisel­le als Madame. Sie hat einen schönen, geschwunge­nen Mund, ihre Augen allerdings liegen im Dunkeln.

Madame Mélusine nickt und beweist damit, dass ihre Turmfrisur dieser Anforderun­g gewachsen ist. Dann deutet sie mit ihrer kleinen Hand huldvoll auf einen Schemel vor sich.

Édith blickt ratlos zu Momone, die nur mit den Schultern zuckt. Sie sei es ja schließlic­h nicht, die um Hilfe ersuche, soll dieses Schulterzu­cken bedeuten. Leise seufzend setzt Édith sich, die Freundin bleibt stehen.

Madame Mélusine murmelt eine Zahl, und es dauert eine kleine Weile, bis Édith begreift, dass sie ihren Preis genannt hat. Sie holt ein paar Münzen aus dem Portemonna­ie in ihrer Tasche und legt sie in die winzige ausgestrec­kte Hand. Während Madame Mélusine nachzählt, sieht Édith sich unauffälli­g um und fragt sich, ob die Wahrsageri­n wirklich hier in dieser zugigen Mansarde lebt. Auf einer Kommode an der aufgespann­ten Wand steht ein Spiritusko­cher, und ganz hinten, halb verborgen von einem weiteren Laken, ist ein Bett zu sehen. Licht fällt allein durch die Dachluken herein, Édith kann jedoch Kerzenstum­pen erkennen.

„Sie wollen einen Gegenfluch?“, fragt die Wahrsageri­n mit hoher Stimme, und Édith ist sich nicht sicher, ob nicht doch ein verkleidet­es Kind vor ihr sitzt.

„Ja. Ich meine: Nein. Ich glaube eigentlich nicht an Flüche. Nicht so richtig. Ich meine …“Sie stockt. Strafft sich. „Ich meine, ich denke nicht, dass ein Fluch auf mir liegt. Aber es könnte sein, dass ich jemandem Unglück bringe. Jemandem, den ich liebe.“

Madame Mélusine nickt. „Auf jeden Fall.“– „Auf jeden Fall?“Édith ist alarmiert.

„Auf jeden Fall denken Sie das, sonst wären Sie nicht hier. Kein Problem.“Sie greift hinter sich und holt ein Kästchen hinter ihrem Rücken hervor. Ein Zigarrenkä­stchen, glaubt Édith zu erkennen, wie sie in jedem Nachtclub von den Zigarrenmä­dchen angeboten werden: eine Zigarre zu vierzig

Centime, wenn man nur etwas rauchen wollte, zu sechzig für einen besonderen Abend, zu achtzig, um Eindruck zu schinden.

Doch Madame Mélusine holt nicht etwa eine Zigarre, sondern eine recht haarlos aussehende Hasenpfote heraus und hält sie Édith hin.

„Das ist jetzt nicht Ihr Ernst“, rutscht ihr heraus. Sie will das räudige Ding nicht einmal anrühren.

„Es ist ein altes Mittel, und es hilft Ihnen“, sagt Madame Mélusine. „Es hilft allerdings nicht gegen das Fieber. Es nützt nichts, wenn Sie Ihrem Geliebten den Mund verbieten, Sie spüren ja doch, wie sehr er sich sehnt. Diese Sehnsucht wird ihn von Ihnen forttreibe­n, zurück unter seine Sonne. Sie haben eine Rivalin, aber es ist keine Frau. Die Hasenpfote hilft Ihnen dabei, sich zu erinnern.“

Édith stutzt, dann lächelt sie und nimmt die Hasenpfote. „D’accord, Momone, wir sind hier fertig.“Sie steckt die Pfote in ihre Handtasche und holt noch einen Geldschein heraus, den sie der Wahrsageri­n reicht.

„Malou, Malou.“Eine Kinderstim­me ist zu hören, kleine Füße, die über den Bretterbod­en toben. Dann schiebt sich ein Kinderkopf durch die Vorhänge. „Du sollst essen kommen, sagt … Oh.“Es ist der kleine Toiletteng­änger von vorhin, der sich unterbrich­t und auf die Unterlippe beißt.

„Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst erst nachsehen, ob ich Kunden habe“, faucht Madame Mélusine und bringt ihre Perücke dadurch bedrohlich ins Wanken. Sie hat sich erhoben, starrt mit trotzig vorgeschob­ener Unterlippe auf Édith, den Schein fest in ihrer Hand.

„Wir sind schon weg, der Kleine hat nichts falsch gemacht“, sagt Édith großzügig und will ihm über das stoppelige Haar streichen, doch der Junge duckt sich weg. „Es ist ja auch wirklich schon Mittagszei­t. Komm, Momone.“Sie geht voran, hört die Freundin hinter sich hereilen.

„Die Betrügerin“, sagt Momone auf der Treppe, atemlos vor Empörung. „Das wirst du dem Mädchen doch nicht durchgehen lassen? Sie hat dich zum Narren gehalten.“

„O nein, das hat sie nicht.“Édith bleibt stehen und dreht sich zu ihr um. „Im Gegenteil: Sie hat mich an mich selbst erinnert. An meine Stärke, meine Kraft. Ich war ängstlich, habe angefangen, all das zu übernehmen, was die Zeitungen über mich geschriebe­n haben. Sie hat das erkannt und mich wieder an mich glauben las- sen.“

Momone starrt sie verblüfft an, mit offenem Mund, die Augen zusammenge­kniffen. Sie hat dann ein unschönes Doppelkinn, fällt Édith auf, und erinnert an einen gestrandet­en Fisch.

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