MADEMOISELLE EDITH HYMNE AN DIE LIEBE
68. Fortsetzung
„Aber sie hat doch gar nicht viel gesagt.“
„Sie hat mich zitiert. Hast du das nicht gehört? Mon amant de la coloniale, eines von Assos Liedern. Ich hätte selbst drauf kommen können.“Sie lacht vergnügt und hüpft förmlich die Treppen herunter. „Kommst du?“, ruft sie von unten und späht über den Handlauf nach oben.
Momone schüttelt ratlos den Kopf und rafft den Pelzmantel. Es bleibt ihr nichts anderes übrig, als der Freundin zu folgen.
„Er war groß und so zärtlich / Dass ich, seit unserer ersten Nacht / Verloren war / Und damit für immer sein.“
Ein anderes Hotelzimmer, eine andere Nacht. Inzwischen kommt es Édith so vor, als ob sie immer auf Marcel warten, in diesen seelenlosen Zimmern leben müsste, bis ans Ende ihrer Tage. Was auch nicht schlimm wäre, zumindest nicht, wenn er ganz gewiss käme.
„Ich sah all die anderen Frauen, wie sie ihn umgarnten / Und griff seinen Arm fester / Und warf ihnen Blicke zu, als könnten sie sagen / Er ist mein, und ich lasse nicht los.“
Édith singt: Es war schon immer die beste Methode, sich abzulenken, und etwas anderes kann sie auch nicht tun, während Marcel boxt. Ihre einzige Möglichkeit, ihn nicht loslassen zu müssen. Aus den Augenwinkeln gestattet sie sich einen Blick auf die quadratische Uhr mit den Leuchtzeigern, die unter der Nachttischlampe steht. Jetzt in etwa ist es so weit, müsste der Kampf bald zu Ende sein. Die Revanche gegen den cirka zweiundsiebzig Kilogramm schweren Boxer, den sie Tarzan nennen. Und wenn er es nicht ist, dann ist es der nächste. Und der nächste. Es ist der Kampf an sich, nicht der Gegner, der zählt. Marcel kämpft nicht gegen irgendjemanden, er kämpft für sich selbst. Im Ring setzt er seinen Willen durch, oder sein Wille ist nicht stark genug, etwas anderes gibt es nicht. Dieser Wille lässt jeden Schmerz unwichtig erscheinen. Er hat sich erst vor wenigen Tagen im Training die rechte Hand gebrochen. Die rechte Hand! Gebrochen! Er ist trotzdem angetreten. Der Wille besiegt den Schmerz, das ist der eigentliche Kampf.
„Obwohl er sagte, er würde bleiben / Ging er doch eines Tages weg / In sein Land, das ich hasse / Und von dem er geträumt hat in der Nacht.“
Die falsche Wahrsagerin kommt Édith in den Sinn, diese Halbwüchsige, die Édith gleich erkannt und sich frech ihres Amant de la coloniale bedient hat: Nichts anderes ist Marcel in diesen Tagen, in Zeiten des Krieges. Ein Legionär, der kurz Station macht im Frieden, der lieben kann und geliebt wird, dessen Seele jedoch in ein anderes Land gehört. Und dahin zurückkehren wird, eines Tages. Wie konnte dieses Mädchen das wissen? Wie konnte sie all das in diesem kurzen Augenblick sehen, auf diesem schummerigen Dachboden, unter der schweren Perücke, die ihr in die Augen zu rutschen drohte? O nein, Momone hatte unrecht. Das Mädchen hatte zweifellos eine Gabe, und Édiths Blick fällt auf die nahezu nackte Hasenpfote, aus der es herauskrümelt. Das räudige Ding soll sie daran erinnern.
Sie summt die nächsten paar Zeilen des Chansons, stellt ihn sich vor, ihren Kämpfer, als das Telefon klingelt: So war es ausgemacht, und Édith greift danach. Am anderen Ende ist Lucien, Marcels Manager: „Er hat gewonnen.“
Édith lächelt und legt den Hörer zurück auf die Gabel. Er wird zurückkehren zu ihr. Dieses Mal noch wird er aus seinem Land zurückkehren.
9.
1948
Das Café du Chateau ist das erste Café in Anet, das Édith und Marcel finden. Wahrscheinlich ist es sowieso das einzige Café des Ortes, so wie das Schloss die einzige Sehenswürdigkeit des kleinen normannischen Dorfes ist. Es gibt fünf Tische, auf denen Vasen mit leuchtenden Astern stehen, ein vergilbtes Plakat hinter der Bar zeigt eine Karte Frankreichs.
„Ein Wunder, dass du es hier aushältst. Und das alles nur für mich …“, raunt Marcel Édith zu, bevor er sich an die Bedienung wendet, ein fülliges Mädchen, dem zwei Grübchen wie kleine Löcher in die Wangen gestanzt sind: „Ah, bonjour, zwei Café au Lait bitte und was immer Sie an leckerem Kuchen auf der Karte haben.“Er lächelt dabei so strahlend, dass sie beinah zurücklächeln muss. Aber nur beinah.
„Wir haben Apfeltarte. Und Apfelringe mit Baiser. Und in Teig gebackene Apfelringe mit Sahne.“
„Also allerhand Äpfel, großartig.“Marcels Stimme klingt, als könnte er sich nichts Schöneres vorstellen als das. Er schenkt dem Mädchen ein so herzliches Lächeln, dass ihre Mundwinkel gar nicht anders können, als sich zur Erwiderung nach oben zu bewegen.
„Apfelprodukte sind die Spezialität der Gegend“, sagt sie. „Und Camembert.“
„Großartig“, wiederholt Marcel. „Dann hätten wir gern zwei Stücke ihrer sicherlich köstlichen Tarte zum Kaffee. Und zwei Calvados“, ruft er ihr hinterher, als ihm einfällt, dass das eindeutig auch in die Kategorie „Apfelprodukte“fällt.
Édith lacht. „Du bist ja bester Laune.“
„Immer doch, mein Herz, wenn du bei mir bist.“