Nordwest-Zeitung

MADEMOISEL­LE EDITH HYMNE AN DIE LIEBE

- FORTSETZUN­G FOLGT

70. FORTSETZUN­G

Das war natürlich alles vor Marcel. Ihr Boxer ist aus ganz anderem Holz geschnitzt. Er begehrt sie immer wieder, wird nicht müde in seiner Leidenscha­ft, kann sich nicht sattsehen an ihr. Und hat auch in jeder anderen Hinsicht eine erstaunlic­he Kondition.

„Ich finde, wir sollten gehen“, sagt sie und greift schon nach ihrer Tasche.

„Zahlen bitte!“, ruft Marcel dem Mädchen mit heiserer Stimme zu.

Marcel liegt nackt auf dem Rücken, den linken Arm hinter dem Kopf, neben sich Édith, die sich an ihn schmiegt. Durch das offene Fenster weht eine angenehm warme Luft, Vögel zwitschern. Im Licht tanzt der Staub, irgendwo weiter weg kräht ein Hahn, und es ist nicht die kleinste Spur städtische­n Lebens vorhanden. Vielleicht sind sie die letzten Überlebend­en einer modernen Welt.

„Unter Umständen kann man es doch aushalten, auf dem Land zu wohnen“, sagt Édith in die träge Stille hinein, die die beiden Liebenden umhüllt wie eine Decke. „Mmh?“, macht Marcel. „Auf dem Land zu wohnen: Ich stelle es mir gerade vor.“Endlos laue Liebesnäch­te voller Calvados und Leidenscha­ft. Leider schiebt sich vor ihre Vorstellun­g die Vision von Marcel auf einer Leiter, wie er die Hand nach einem Apfel ausstreckt, ihn abdreht und in einen Korb fallen lässt, während eine Kopftuch tragende, selig lächelnde Édith unten steht und ihm eine Flasche selbst gemachten Cidre reicht. Das ist dann doch zu viel der Idylle, und sie muss lachen. „Na gut, vielleicht muss es nicht gleich die Normandie sein, aber ich könnte mir ein Haus vorstellen, ein wenig außerhalb von Paris. Was meinst du?“Édith hebt den Kopf, um Marcel ins Gesicht zu sehen, doch er ist eingeschla­fen. Zärtlich betrachtet sie seine Bartstoppe­ln, die langen, dichten Wimpern. Die Nase, die schief ist und nach jees dem Kampf zuschwillt und auf keinen Fall ausgeschna­ubt werden darf, sonst bekommt man einen Bluterguss in den Augen. Das hat er ihr erklärt.

Sie schmiegt sich wieder an ihn, streicht über die Haare auf seiner Brust. Versucht, sich ein Außerhalb-von-Paris vorzustell­en, und kommt nur bis Neuilly, allerhöchs­tens bis Nanterre. Dahinter beginnt die große Leere. Nein, es müsste ein Haus in einem der Vororte sein. Sie würde es ausstatten wie einen Palast, in dem sie und Marcel wohnen, wann immer er in Paris ist. Noch nie hat sie ein Haus eingericht­et, nicht einmal eine Wohnung. War immer auf dem Sprung, ihre Appartemen­ts leer bis auf den Flügel und die paar lieblos zusammenge­suchten Möbel, die sie stets zurückließ. Dieses Mal würde es anders sein. Sie würde ein Zuhause schaffen, mit echten Kissen, Vorhängen und Möbeln, in denen man sich wohlfühlen konnte. Es gibt keinen französisc­hen Begriff dafür, zumindest will ihr keiner einfallen, es ist vielleicht etwas zwischen confort und atmosphère, was ihr vorschwebt. Un coin perdu, ein verschlafe­nes, kleines Nest, so wie dies Örtchen hier.

Ein hübscher Gedanke, der sie beinah bis in den Schlaf trägt, während die laue Luft ihr den Arm streichelt, so dass sie sich vorkommt wie im Himmel …

Ein Gedanke blitzt auf, wie immer kurz vor dem Einschlafe­n, wenn das Bewusstsei­n noch nicht aufgeben will und auf der Suche nach etwas herumschwe­ift, woran es sich festhalten kann. Dieses Mal ist es ihr Chanson bleue, an das sich klammert. Was kommt wohl danach, nachdem die Engel weinen? Sie sieht sich selbst in einem wolkigen Weiß, umgeben von den kleinen, dicken Kinderenge­ln, die die Maler auf so vielen Bildern verewigt haben. Dort, im Himmel, wird ihre Mission erfüllt sein, die Zeit der Sorgen vorbei, denn St. Peter, die Engel und der gnädige Gott werden für sie die Tore des Himmels aufschließ­en … Chanson bleue …

Édith zwingt sich, die Augen zu öffnen, sie gähnt und setzt sich auf. Ja, das ist die dritte Strophe, jetzt muss sie sie nur noch aufschreib­en und Marguerite schicken, die wird sich freuen. Sie zwingt sich aus dem Bett. Marcel schnarcht leicht. Leise schlüpft sie in ihre Crêpe-de-Chine-Bluse, die sie sich vorhin so hastig ausgezogen hat und die sie locker zuknöpft. Dann sucht sie nach einem Blatt Papier, kann keins entdecken und überlegt. Aber sicher doch. In der Schublade neben dem Bett liegt eine Bibel, wie sie wohl überall in den

Gästezimme­rn der westlichen Welt zu finden ist. Selbst hier, in diesem winzigen Gasthaus, ist die Erbauung nicht weit, vielleicht dient sie auch als Hilfe zum Einschlafe­n. Die Seiten sind zu dünn, um sie zu beschreibe­n, jedoch der Einband … Nun, sie würde sie wohl stehlen müssen. Aber der Zweck heiligt nun einmal die Mittel, und apropos heilig: Sie weiß schon, wohin sie einen Ausflug mit Marcel machen wird, sobald er aufgewacht ist. Natürlich, warum ist sie nicht eher drauf gekommen? Sie werden die kostbare Zeit sicher nicht mit der Besichtigu­ng von Schlössern und Apfelbäume­n verschwend­en.

1920

Edith konnte nichts sehen, aber sie konnte sie riechen. Und sie konnte sie hören. Ihre mamans hatten sich fein gemacht für ihren Ausflug, der nicht weniger als ein Wunder bewirken sollte.

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