Nordwest-Zeitung

MADEMOISEL­LE EDITH HYMNE AN DIE LIEBE

ROMAN VON CHRISTINE GIRARD

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71. Fortsetzun­g

Die Waschfrau Madame Taillère wünschte ihnen Glück. Édith konnte sie schluchzen hören, bevor sie ein klebriges Etwas in die Hand gedrückt bekam. Dann wurde sie in eine Kutsche gehoben. Es musste eine große sein, damit alle darin Platz finden konnten, und Édith hätte sie zu gerne gesehen. Und die Pferde, die sie zogen. Aber der Kutscher hatte ihr verboten, sie anzufassen, sie würden beißen. Édith hätte gern die beißenden Pferde gesehen.

Ihre Grandmère Tine nahm neben ihr Platz, die Bank senkte sich. Auf der anderen Seite kam Odette zum Sitzen: „Iss nur deinen Keks, Herzchen“, sagte sie. Édith spürte, wie ihr eine Decke über die Beine gelegt wurde, während sie an dem Gebäck knabberte. Kichern war zu hören, Rascheln, als die mamans sich ihr gegenübers­etzten, sie konnte Lisette tuscheln hören, vernahm das Klimpern von Manons langen

Ohrringen, roch Carmens Fuchs, den sie sich immer um den Hals wickelte und der nach Mottenkuge­ln stank. Carine und Gaelle mussten nach vorne auf den Kutschbock klettern. Sie lachten, weil der Kutscher ihnen einen Witz erzählte, den Édith nicht verstand. Es ging um einen Priester und ein freudiges Mädchen, aber Maman Tine sagte, so etwas dürfe er nicht erzählen und schon gar nicht vor unschuldig­en Ohren. Édith fragte sich, wo die wohl waren, und stellte sich die Ohren der Pferde vor.

„Und los mit den wilden Hühnern“, sagte der Kutscher, und wieder kicherten die Frauen vorne, aber mehr konnte Édith nicht verstehen, weil die Kutsche sich in Bewegung setzte und die Pferdehufe so laut waren.

Zuerst war es aufregend, das Klappern und Schnauben der Pferde, die mamans, die alle durcheinan­der plapperten. Dann kamen sie durch Bernay und die Stimmung änderte sich. Die mamans wurden ruauch higer, als Stimmen zu hören waren. Stimmen, die wütend klangen.

„Schämt euch, ihr Huren!“, rief jemand. Und: „Am helllichte­n Tag!“

„Sing doch was“, sagte Odette, als noch mehr böse Worte gerufen wurden, und Édith ließ sich nicht zweimal bitten. Sie sang gerne und hatte schon begriffen, dass man zudem sehr gut gegen etwas ansingen konnte. Gegen Hänseleien, böse Stimmen und höhnisches Gelächter. Sie sang Sur le pont d’Avignon, weil es ihr gefiel und weil es sie irgendwie an Maman Tine und ihre filles erinnerte, die auch so oft und gerne tanzten. Und danach Voici le mois de mai, weil ja schließlic­h Mai war, und ganz zuletzt La petite fille et le papillon, das Gaelle ihr beigebrach­t hatte, die aus der Bretagne kam. Die mamans fielen mit ein, selbst Odette, die fand, dass die Bretagne eigentlich kein französisc­her Ort und Gaelle eine Wilde sei.

Und schließlic­h waren sie in Lisieux, und niemand rief ihnen mehr böse Worte nach. Édith spürte sofort den himmlische­n Frieden, der hier im Kloster herrschte. In der Kapelle der Karmeliten musste sich Édith auf eine Bank knien, die Hände falten und um Genesung für ihre Augen bitten. Überall war Gemurmel um sie herum, Schritte schabten über Stein, es roch schwer nach Kräutern und Kerzenwach­s.

„Die kleine Thérèse wird dich erhören“, flüsterte Odette ihr zu.

„Ihr Herz war so rein wie deines, sie hat niemandem ein Leid getan, so wie du, also soll dir kein Leid geschehen. Falte schön deine Hände zusammen. Ja, so ist es richtig. Denke ganz fest an Thérèse, sie ist deine Schwester.“

Und Édith verhakte ihre Fingerchen so sehr ineinander, dass sie ihr wehtaten, aber das machte nichts, musste ja so sein, schließlic­h hatte Thérèse ja auch gelitten. Deswegen sollte sie ja heiliggesp­rochen werden. Dazu war immer ein Opfer nötig. Angestreng­t machte sich die kleine Édith an ihr eigenes Opfer und freute sich regelrecht, als ihre Knie anfingen wehzutun, ihr kalt wurde und ihr Nacken spannte.

Als man sie wieder in die Kutsche setzte, war sie durchgefro­ren und steif vor Heiligkeit und so mit sich zufrieden, dass sie ganz müde wurde. Ihre Augen fühlten sich genesen an, gar nicht mehr kratzig, aber sie durfte die Binden noch nicht abnehmen.

Schläfrig ließ sie sich nach Hause tragen und wurde nur manchmal wach, wenn eines der Mädchen zu laut kicherte oder die Kutsche in ein Loch rumpelte. Satzfetzen der Unterhaltu­ng begleitete­n sie wieder in den Schlaf: „So ein Widerling“, „Muss er extra zahlen“, „Nimm den Finger, dann kommt’s ihm schneller“. Satzfetzen, die keine Bedeutung für sie hatten, die Édith einhüllten wie eine Decke. Parfüm umwehte sie, der Duft der Liebe, sie hatte ihre Grandmère neben sich, ihre sechs mamans und ihre Schwester Thérèse. Ihre eigene heilige Familie.

1948

Du musst dich hinknien“, flüstert Édith.

„Nicht wahr.“

„Doch, das musst du. Nun komm schon, Marcel, sonst wirkt es nicht.“

Der Boxer stöhnt und lässt sich schwer auf die Bank vor sich nieder, die ebenfalls aufächzt. „Ich weiß nicht, wie ich mich von dir dazu habe überreden lassen“, sagt Marcel, faltet aber gehorsam die Hände. Fortsetzun­g folgt

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