Ärzte gegen Pflichteinsatz
Ärztekammer-Präsidentin Wenker schließt Gang zum Verfassungsgericht nicht aus
HANNOVER/KNA – Kritik an einer von Niedersachsens Landesregierung geplanten Zwangsverpflichtung von Medizinern während einer Epidemie kommt von der Ärztegewerkschaft Marburger Bund. Eine drohende Zwangsrekrutierung „wäre ein absolut falsches Signal“, sagte der Erste Landesvorsitzende Hans Martin Wollenberg. Diese Regelung stelle „einen erheblichen Eingriff in Grund- und Persönlichkeitsrechte von Beschäftigten im Gesundheitswesen dar“, hieß es.
Ein geplantes Gesetz zur Bekämpfung von Epidemien sorgt in der Ärzteschaft und bei Pflegenden für Empörung. Dr. Martina Wenker, Präsidentin der Ärztekammer Niedersachsen, warnt SPD und CDU.
Frau Dr. Wenker, die SPD/ CDU-Landesregierung plant ein Gesetz, um bei einer „epidemischen Lage von landesweiter Tragweite“medizinisches und pflegerisches Personal zwangsverpflichten zu können. Wie beurteilen Sie den Plan? Wenker: Das ist ein massiver Eingriff in die Freiheitsrechte. Das Grundgesetz schützt in Artikel 12 die freie Berufswahl. Dieses niedersächsische Gesetz kann die Ärzteschaft so nicht hinnehmen. Und man fragt sich: Warum kommt dieses Gesetz denn jetzt? Wir haben die erste Corona-Welle erstaunlich gut gemeistert. Viele haben sich freiwillig und engagiert beteiligt. Sie stößt man mit so einer Gesetzesvorlage geradezu vor den Kopf. Ich kann nur warnen vor solchen „Zwangsrekrutierungen“.
Wie viele haben sich denn engagiert?
Wenker: Über die Kassenärztlichen Vereinigungen haben wir 42 000 Mediziner angeschrieben. Wie viele sich konkret wo gemeldet haben, kann ich noch nicht sagen. Es gab eine ungeheure Welle der Hilfsbereitschaft. Viele Ärzte haben ihre Hilfe angeboten, darunter viele Pensionäre – bis hin zu einem 84-jährigen Gynäkologen, der anbot, Proben vorzunehmen. Auch Medizinstudenten haben zuhauf auf einer eigens gegründeten Plattform Hilfe angeboten. Alle zusammen haben sich sehr ins Zeug gelegt. Dieses hohe freiwillige Engagement brauchen wir auch bei einer zweiten und dritten Infektionswelle, die gewiss kommen werden. Daher empfinde ich die Gesetzesvorlage als Reaktion auf den bisher in Niedersachsen sehr erfolgreichen Weg der Krisenbekämpfung als geradezu kontraproduktiv.
Die rot-schwarze Landesregierung plant die „Rekrutierungen“über einen Zeitraum von zwei Monaten. Was sollte man denn vorausschauend auf die nächste Corona-Welle tun? Wenker: Wenn man etwas vo
rausschauend tun will, sollte man nach Nordrhein-Westfalen schauen. Dort wurde ein ähnlicher Vorschlag zur Zwangsrekrutierung bereits aus dem Gesetzgebungsverfahren genommen. Übrigens hat auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) von entsprechenden Planungen Abstand genommen. Wir sollten die Zeit nutzen und ein Freiwilligenregister aufstellen. Da gehören dann alle dazu, beispielsweise auch Hebammen, Pflegekräfte oder Physiotherapeuten. Man sollte jetzt wertschätzend auf alle Gesundheitsfachberufe zugehen.
Bei so einem Freiwilligenregister arbeiten wir gerne mit, wenn der Staat nicht die Keule zückt.
Wo sollte das Freiwilligenregister angesiedelt sein? Im Sozialministerium?
Wenker: Das wäre zu überlegen. Eine Ansiedlung beim Sozialund Gesundheitsministerium macht insofern Sinn, wenn es alle Gesundheitsfachberufe betrifft. Die Aufrufe sollten aber die Kammern und Berufsverbände machen.
Einmal angenommen, die Gesetzesvorlage bekommt dennoch eine Mehrheit im Landtag. Was würde passieren? Wenker: Sollte es bei den Plänen für eine Zwangsrekrutierung bleiben, wird es einen gewaltigen Aufschrei in der Ärzteschaft geben. Ich kann mir vorstellen, dass betroffene Ärzte bis vors Bundesverfassungsgericht gehen werden. Der Artikel 12 ist recht klar formuliert. Übrigens: Für viele Ärzte und Pflegekräfte war die Situation in den vergangenen Wochen sehr belastend. Für den Fall, dass das Gesetz eine Mehrheit bekommt, befürchte ich, dass diese Berufsgruppen in eine innere Resignation gehen und nur noch Dienst nach Vorschrift machen werden.