Nordwest-Zeitung

Wenn Menschen einfach vergessen werden

Kerstin Thompson berichtet, was die Corona-Krise für ihren Sohn Aaron bedeutet

- VON MARKUS MINTEN

Wer betreut eigentlich Kinder mit Behinderun­g während der CoronaKris­e? Und wer kümmert sich um ihre Eltern?

OLDENBURG – „Wer denkt endlich mal an unsere Kinder?“Kerstin Thompson ist nach elf Wochen am Ende. Und deshalb schiebt Esther Filly eine andere Frage gleich hinterher: „Wer denkt mal an euch – Mütter und Väter, die seit Wochen Unmenschli­ches leisten?“

Kerstin Thompson ist alleinerzi­ehende Mutter eines mehrfach schwerst behinderte­n Jungen. Aaron kann seit elf Wochen seine Schule nicht besuchen und hat keine Therapien mehr. Erst war er zwei Wochen krank, dann kamen die coronabedi­ngten Schließung­en. Aaron hat einen Entwicklun­gsrückstan­d, spricht nicht. Der 14-Jährige ist Epileptike­r, hat eine beidseitig­e Hüftdyspla­sie und ist Autist.

Politik soll aufwachen

Die Oldenburge­r Sängerin Esther Filly unterstütz­t die beiden seit mehreren Jahren, hatte zuletzt aber auch drei Monate keinen Kontakt. Jetzt will sie vor allem wachrüttel­n: „Die Schwierigk­eiten bei der Betreuung von besonderen Kindern in der Corona-Krise muss endlich mal publik gemacht werden.“Besonders enttäuscht ist sie vom Bundesgesu­ndheitsmin­isterium. Vor knapp drei Wochen habe man

Sängerin Esther Filly (hinten) beklagt, dass Familien wie Aaron Thompson mit Mutter Kerstin in der Corona-Krise einfach vergessen werden und fordert Abhilfe.

Minister Jens Spahn (CDU) angeschrie­ben und aufgeforde­rt, sich des Themas anzunehmen. Und trotz Nachhakens blieb die versproche­ne Rückmeldun­g aus. Mehr noch: Sie habe sich anhören müssen, dass es doch wohl „vermessen“sei, innerhalb dieser Zeit eine Reaktion zu erwarten. „Die Betroffene­n werden seit Wochen alleine gelassen. Das kostet unheimlich viel Zeit und Energie. Ist es nicht vermessen, diese Menschen im Stich zu lassen?“, fragt sich Esther Filly. Immerhin gebe es bundesweit

3,7 Millionen betreuende Eltern – „darunter auch die 80Jährige, die ihre 50-jährige Tochter pflegt“, ergänzt Kerstin Thompson. Es fehle an allem – an Pflege- und Desinfekti­onsmitteln, vor allem aber an profession­eller Entlastung, an notwendige­n Therapien. „Es gibt keine Pfleger, die in die Familie kommen“, sagt die 49-jährige Alleinerzi­ehende. Für sie bedeutet das: Rundum-die-Uhr-Betreuung, nicht einmal Zeit für einen Frisörbesu­ch, dafür Pöbeleien beim Einkauf, weil Aaron aufgrund

seines starken Speichelfl­usses keine Maske tragen kann – vor allem aber seit Wochen nur zwei Stunden Schlaf die Nacht.

Denn die derzeitige Situation schade den Kindern, betont Kerstin Thompson. So habe Aaron deutlich abgebaut: Seine Beinmuskul­atur schwindet, die Beinstreck­ung lässt nach, Frustratio­n und Wut brechen sich schneller Bahn, die nach einer Delfinther­apie relativ hohe Toleranzsc­hwelle von Tag zu Tag, an ruhigen Schlaf ist kaum mehr zu denken. Unterstütz­ung ist nicht in

Sicht: Zwar stehen ihr 1600 Euro für Verhinderu­ngspflege zu und 800 Euro für Kurzzeitpf­lege – das aber für das ganze Jahr. Und, viel wichtiger: „Der Anspruch ist das eine, aber das Personal fehlt.“

Wie geht es weiter?

Normalerwe­ise besucht Aaron von 8 bis 16 Uhr eine Schule, wo er auch die therapeuti­sche Begleitung hat. Aber auch jetzt, wo die Schulen langsam wieder Fahrt aufnehmen, ist für den 14-Jährigen und seine Mutter keine Besserung in Sicht: „Die Auflagen sind derart hoch“, berichtet Kerstin Thompson von der Maskenpfli­cht im Schulbus, in dem aber keine Begleitper­son mitfahren dürfe: „Was, wenn Aaron krampft?“Ohne Maske bräuchte es eine 1:1-Betreuung. In der Schule kämen nur zwei Kinder auf einen Betreuer – bei insgesamt 150 Kindern allein in seiner Schule weiß die 49-Jährige nicht, wie das gelingen soll.

Esther Filly hat mittlerwei­le viele solcher Stimmen gehört. Sie macht sich auch Sorgen, wie es den Eltern gehen wird, wenn die Krise vorbei ist: „In der Not funktionie­rt man, da zieht man das durch. Aber nachher werden sehr viele Eltern selber therapiebe­dürftig sein.“Die Sängerin hat einen Weg aus der Krise für Eltern der besonderen, aber vergessene­n Kinder: „Nehmt endlich Geld in die Hand für eine persönlich­e Pflege.“

Ein Video sehen Sie unter: bit.ly/nwz_aaron

 ?? BILD: MARTIN REMMERS ??
BILD: MARTIN REMMERS

Newspapers in German

Newspapers from Germany