Wenn Menschen einfach vergessen werden
Kerstin Thompson berichtet, was die Corona-Krise für ihren Sohn Aaron bedeutet
Wer betreut eigentlich Kinder mit Behinderung während der CoronaKrise? Und wer kümmert sich um ihre Eltern?
OLDENBURG – „Wer denkt endlich mal an unsere Kinder?“Kerstin Thompson ist nach elf Wochen am Ende. Und deshalb schiebt Esther Filly eine andere Frage gleich hinterher: „Wer denkt mal an euch – Mütter und Väter, die seit Wochen Unmenschliches leisten?“
Kerstin Thompson ist alleinerziehende Mutter eines mehrfach schwerst behinderten Jungen. Aaron kann seit elf Wochen seine Schule nicht besuchen und hat keine Therapien mehr. Erst war er zwei Wochen krank, dann kamen die coronabedingten Schließungen. Aaron hat einen Entwicklungsrückstand, spricht nicht. Der 14-Jährige ist Epileptiker, hat eine beidseitige Hüftdysplasie und ist Autist.
Politik soll aufwachen
Die Oldenburger Sängerin Esther Filly unterstützt die beiden seit mehreren Jahren, hatte zuletzt aber auch drei Monate keinen Kontakt. Jetzt will sie vor allem wachrütteln: „Die Schwierigkeiten bei der Betreuung von besonderen Kindern in der Corona-Krise muss endlich mal publik gemacht werden.“Besonders enttäuscht ist sie vom Bundesgesundheitsministerium. Vor knapp drei Wochen habe man
Sängerin Esther Filly (hinten) beklagt, dass Familien wie Aaron Thompson mit Mutter Kerstin in der Corona-Krise einfach vergessen werden und fordert Abhilfe.
Minister Jens Spahn (CDU) angeschrieben und aufgefordert, sich des Themas anzunehmen. Und trotz Nachhakens blieb die versprochene Rückmeldung aus. Mehr noch: Sie habe sich anhören müssen, dass es doch wohl „vermessen“sei, innerhalb dieser Zeit eine Reaktion zu erwarten. „Die Betroffenen werden seit Wochen alleine gelassen. Das kostet unheimlich viel Zeit und Energie. Ist es nicht vermessen, diese Menschen im Stich zu lassen?“, fragt sich Esther Filly. Immerhin gebe es bundesweit
3,7 Millionen betreuende Eltern – „darunter auch die 80Jährige, die ihre 50-jährige Tochter pflegt“, ergänzt Kerstin Thompson. Es fehle an allem – an Pflege- und Desinfektionsmitteln, vor allem aber an professioneller Entlastung, an notwendigen Therapien. „Es gibt keine Pfleger, die in die Familie kommen“, sagt die 49-jährige Alleinerziehende. Für sie bedeutet das: Rundum-die-Uhr-Betreuung, nicht einmal Zeit für einen Frisörbesuch, dafür Pöbeleien beim Einkauf, weil Aaron aufgrund
seines starken Speichelflusses keine Maske tragen kann – vor allem aber seit Wochen nur zwei Stunden Schlaf die Nacht.
Denn die derzeitige Situation schade den Kindern, betont Kerstin Thompson. So habe Aaron deutlich abgebaut: Seine Beinmuskulatur schwindet, die Beinstreckung lässt nach, Frustration und Wut brechen sich schneller Bahn, die nach einer Delfintherapie relativ hohe Toleranzschwelle von Tag zu Tag, an ruhigen Schlaf ist kaum mehr zu denken. Unterstützung ist nicht in
Sicht: Zwar stehen ihr 1600 Euro für Verhinderungspflege zu und 800 Euro für Kurzzeitpflege – das aber für das ganze Jahr. Und, viel wichtiger: „Der Anspruch ist das eine, aber das Personal fehlt.“
Wie geht es weiter?
Normalerweise besucht Aaron von 8 bis 16 Uhr eine Schule, wo er auch die therapeutische Begleitung hat. Aber auch jetzt, wo die Schulen langsam wieder Fahrt aufnehmen, ist für den 14-Jährigen und seine Mutter keine Besserung in Sicht: „Die Auflagen sind derart hoch“, berichtet Kerstin Thompson von der Maskenpflicht im Schulbus, in dem aber keine Begleitperson mitfahren dürfe: „Was, wenn Aaron krampft?“Ohne Maske bräuchte es eine 1:1-Betreuung. In der Schule kämen nur zwei Kinder auf einen Betreuer – bei insgesamt 150 Kindern allein in seiner Schule weiß die 49-Jährige nicht, wie das gelingen soll.
Esther Filly hat mittlerweile viele solcher Stimmen gehört. Sie macht sich auch Sorgen, wie es den Eltern gehen wird, wenn die Krise vorbei ist: „In der Not funktioniert man, da zieht man das durch. Aber nachher werden sehr viele Eltern selber therapiebedürftig sein.“Die Sängerin hat einen Weg aus der Krise für Eltern der besonderen, aber vergessenen Kinder: „Nehmt endlich Geld in die Hand für eine persönliche Pflege.“
Ein Video sehen Sie unter: bit.ly/nwz_aaron