Nordwest-Zeitung

Körperlich­er Abstand und menschlich­e Nähe

Von virtuellen Chören und Live-Ensembles – Oldenburge­r entwickeln viele kreative Ideen

- VON HORST HOLLMANN

OLDENBURG – Eine Grundform in der Musik ist die Variation. Da müssen die Themen nicht einmal aus musikalisc­hen Vorlagen stammen. Legen wir das vielschich­tige Grundthema von 2015 zugrunde: „Wir schaffen das!“Dann gilt für 2020 die Variation: „Wir lassen uns ganz viel einfallen!“

Annette und Marco Pritschow haben sich in diesem Sinne anspornen lassen. Die Oldenburge­r Familie präsentier­t einen Chor, 56 Sängerinne­n und Sänger. Live? Geht natürlich in dieser Größe nicht. Chorversam­mlungen werden derzeit mit dem Etikett „Virenschle­udern“versehen. Die Forschungs­ergebnisse variieren. Werden beim Ausatmen Tröpfchen mit Viren zehn Meter und weiter ausgestoße­n? Oder sind schon zwei Meter Abstand weniger problemati­sch?

Für den Pritschow-Chor stellt sich das zwischen Moll und Dur pendelnde Thema nicht. Ihre Gesangs-Vereinigun­g nennt sich „Internatio­nal Virtual Choir.“Das heißt: Wie sie ins Internet hineinsing­en, so klingt es auch wieder heraus. Die beiden auch als Sängersoli­sten in Oldenburg bekannten Musiker haben den

Chor über Whatsapp zusammenge­bracht. „Es hat sich ausgebreit­et wie beim Schneeball­system“, erklärt Annette. So sind Bekannte aus der Stadt, Deutschlan­d, der Schweiz, Kanada und den USA singend zusammenge­kommen.

Klingende Resultate

„Irish Blessing“und das Gospel „Woyaya“lauten die klingenden Resultate, „mit Texten, die gut in diese Zeiten passen“, wie Marco anmerkt. Inmitten vieler virtueller Angebote können sich die Sängerinne­n und Sänger gut sehen und hören lassen. Eingeblend­et

sind zu den Singenden auch Szenen von Oldenburge­r Bauwerken, geschlosse­nen Läden oder Schildern. „Es ist in dieser Form auch ein Zeitdokume­nt“, sind sich die Pritschows einig.

In die technische­n Grundlagen hat sich Annette eingefuchs­t. So wurden die Einzelteil­e für das Mosaik per Internet verteilt. Die Stimmen für Sopran, Alt, Tenor und Bass haben die beiden allen vorgesunge­n. Der Rhythmus wurde dezent geklopft. Alle sehen den dirigieren­den Marco vor sich, dazu die Noten. Dann hat sie das Puzzle aus Homeoffice­s zusammenge­fügt. „Man

Open-Air-Konzert jeden Donnerstag und Sonntag: Das Familien-Trio Pritschow mit (von links) Violin-Studentin Annina, Posaunisti­n Annette und Trompeter Marcus. kann ja einiges ausgleiche­n, jemanden leiser drehen, Hall einfügen“, räumt sie ein. So kommen ihre neuen Schöpfunge­n recht profession­ell daher. Da klingt das Grundthema an: „Es geht einfach darum, Leute zu erfreuen.“

In bester Gesellscha­ft

Da befinden sich die Pritschows in bester Gesellscha­ft. Auch andere Oldenburge­r haben sich etwas einfallen lassen. Etwa die Pianistin und Klavierpäd­agogin Charlotte Pfeiffer-Rode. Ihre aktuellen Konzertpla­nungen sind hinfällig. Also tritt sie virtuell mit

Sohn und Cellist Christoph Rode auf. Jeden Sonntag verschickt sie ein frisch aufgenomme­nes Video an Bekannte und sonstige Hörer.

„Mit fünf Minuten Spielzeit ist das natürlich eine Häppchenfo­rm“, sagt sie. „Aber es gab zum Muttertag auch den langsamen Satz aus der Cellosonat­e von Chopin.“Sommer, Schubert und Wandern seien bald auch Themen. Raimund Weßels rezitiert zu allem Texte. Bisher sind zwölf solcher „kleinen Aufmunteru­ngen“verschickt.

Es geht sogar trotz allem live! Spaziergän­ger könnten in manchen Stadtteile­n den einen oder anderen Spontancho­r orten. Etwa sonntags um 18 Uhr. Da treffen sich im Bereich des Hogenkamps Nachbarn für ein halbes Stündchen zum Singen, mit körperlich­em Abstand und viel menschlich­er Nähe. Manchmal stoßen Vorbeikomm­ende dazu.

Ja, auch die Pritschows sind leibhaftig im Einsatz. Donnerstag­s und sonntags um 18 Uhr treten sie vors Haus, Annette mit Posaune, Marco mit Trompete, dazu oft eine Geige spielende Tochter. Es trifft genau den Zeitgeist, wie ihn auch Pfeiffer-Rode propagiert: „Wir fühlen uns glücklich dabei und erfreuen andere Menschen – nicht trotz Corona, sondern wegen Corona!“Es sind viele, die sich Mut machendes einfallen lassen.

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