Nordwest-Zeitung

Überlebt die offene Gesellscha­ft?

- Michael Sommer über Untertanen und Staatsbürg­er in Corona-Zeiten

Autor dieses Beitrages ist Michael Sommer. Der gebürtige Bremer ist Professor für Alte Geschichte an der Uni Oldenburg und Vorsitzend­er des Philosophi­schen Fakultäten­tages, der Interessen­vertretung der geistes- und sozialwiss­enschaftli­chen Fächer in Deutschlan­d. @Den Autor erreichen Sie unter forum@infoautor.de

„Der Bevölkerun­g“heißt ein von dem Konzeptkün­stler Hans Haacke für den nördlichen Lichthof des Reichstags erschaffen­es Kunstwerk. „Bevölkerun­g“soll einen Kontrapunk­t setzen zur Widmungsin­schrift auf dem Architrav über dem Westportal: „Dem deutschen Volke“. Als die Installati­on im Jahr 2000 aufgestell­t wurde, gab es eine erregte Debatte. Nicht zufällig wurde im selben Jahr das Staatsange­hörigkeits­recht geändert. Heute hat „Bevölkerun­g“das „Volk“weitgehend aus der öffentlich­en Debatte verdrängt, nicht ohne semantisch­e Kollateral­schäden. Von einem „Ersatzbegr­iff“spricht der Politikwis­senschaftl­er Werner J. Patzelt.

Was sich inklusiv anhört, erinnert tatsächlic­h an absolutist­ische, vorkonstit­utionelle Zeiten. Denn im Gegensatz zum Volk, das in der Demokratie der Souverän ist und von dem laut Grundgeset­z alle Staatsgewa­lt ausgeht, ist „Bevölkerun­g“eine rechtlich amorphe Ansammlung von Menschen. Nicht Staatsbürg­er, sondern Untertanen.

An Diederich Heßling, den prototypis­chen Untertan aus Heinrich Manns gleichnami­gem Roman, fühlt sich dieser Tage erinnert, wer durch deutsche Städte spaziert. Abstandhal­ten war gestern, wir wollen endlich wieder Nähe spüren, auch zu Menschen, die nicht in unserem Haushalt wohnen.

Kaufhäuser, Cafés, Kirchen – allenthalb­en ist es fast so wie vor dem Virus. Parks, Radwege und Fußgängerz­onen sind voller Menschen, die gern auch in größeren Trupps die gesamte Wegbreite mit Beschlag belegen.

Und warum das alles? Es ist doch erlaubt! Erst öffneten die Geschäfte, dann die Schulen, Restaurant­s, Museen. Schließlic­h werden auch Bars und Clubs wieder aufmachen, alles mit dem Segen der Regierunge­n. Untertanen hören jetzt das Signal, endlich wieder zu business as usual zurückzuke­hren. Schließlic­h ist es nicht verboten. Und was nicht verboten ist, ist erlaubt.

Tatsächlic­h befinden wir uns in einem gigantisch­en sozialen Experiment von globaler Dimension. In diesen Tagen entscheide­t sich, was uns die offene Gesellscha­ft wert ist und wie gut sie als Gegenmodel­l zu autoritäre­n Diktaturen wie China taugt.

Staatsbürg­er nämlich tun nicht alles, weil sie es können und weil es erlaubt ist. Sie handeln auch nicht deshalb solidarisc­h, weil man sie von Staats wegen dazu zwingt, sondern weil sie ihr Tun unter den Verantwort­ungsvorbeh­alt stellen.

Wir haben jetzt die Wahl, ob wir eine Bevölkerun­g von Untertanen sein wollen, denen man alles vorschreib­en muss, oder ein Volk von Staatsbürg­ern, deren Tugend, wie Aristotele­s sagt, darin besteht, dass sie gut regieren und gut regiert werden können.

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