Nähe zum Nächsten nur auf Distanz
Besuchskontakte in Pflegeheimen sind noch weitab von der bisherigen Normalität
Mit Mundschutz und hinter Glas: Nur so kann man im Moment Kontakt zu seinen Liebsten in Pflegeheimen aufnehmen. Bittere Szenen spielen sich da ab.
OLDENBURG – Seine Mutter hat er schon lange nicht mehr in den Arm genommen. Auch nicht, als sie 99 Jahre alt geworden ist. Das war am 18. Mai. Mit Sekt zugeprostet hat Holger Ahrensdorf ihr an diesem Tag aber doch. Das ist so Tradition bei ihnen. Nur diesmal war alles anders. Denn Martha Ahrensdorf stand auf dem Balkon ihres Zimmers im ersten Stock des Büsingstifts. Ihr Sohn und ihr Neffe winkten ihr vom Wallgraben aus zu.
Er habe sich sehr um eine Ausnahme aus besonderem Anlass bemüht, erzählt Holger Ahrensdorf. „Für den Geburtstag wurde meiner Mutter lediglich ein Kontakt durch eine geschlossene Scheibe, die den Wohnbereich des Heimes und das dazugehörige Café voneinander trennt, vom Heim angeboten, das sogenannte Besucherfenster. Die Verständigung sollte mit Mundschutz durch ein Babyphone erfolgen. Diese Art des Kontaktes wollten meine Mutter und ich nicht, da dies für uns keine Form der Kommunikation darstellt.“Im Nachhinein sei er auch ganz froh gewesen, nicht das „Besucherfenster“gewählt zu haben, sagt Ahrensdorf im Gespräch mit der Ð: „Das wäre viel zu emotional geworden.“
Beim Besuch geweint
Ein anderer Fall: Mit Mundschutz, hinter Glas und nach vorher vereinbartem Termin kann auch die Petersfehnerin (die nicht namentlich genannte werden möchte) ihrem Mann im DRK-Pflegeheim Erlenhof in Bloherfelde begegnen. Das erste Mal am Besucherfenster und unter diesen Voraussetzungen sei furchtbar gewesen, sagt die 71-Jährige: „Er saß drinnen, ich draußen. Er reagierte gar nicht auf mich. Die Scheibe spiegelte auch so. Ich musste weinen.“
Ihr Mann sei an einer speziellen Form von Parkinson erkrankt, erzählt sie. Seit Oktober 2019 wohnt der 72-Jährige im Erlenhof. „Ich war jeden zweiten Tag bei ihm und habe ihn im Rollstuhl herumgefahren“, erzählt seine Frau. Dann kam Corona und damit der Besuchsstopp. „Er baut immer mehr ab“, sagt die Petersfehnerin über ihren Mann. „Diese Isolierung ist eine Katastrophe. Ich weiß, dass sich das Personal viel Mühe gibt.“Am Mittwoch hat die 72-Jährige ihren Mann wieder besucht. Für eine Stunde, in einem Besucherzelt, durch eine Scheibe getrennt. Sie mit Mundschutz.
Holger Ahrensdorf hat seine Mutter Martha am 16. März zum letzten Mal auf ihrem Zimmer im Büsingstift besucht. Als die Niedersächsidert
Freut sich über ihre neu bepflanzten Balkonkästen: Die hat Martha Ahrensdorf zu ihrem 99. Geburtstag von ihrem Sohn Holger bekommen. Mit Sekt zugeprostet hat sie ihm vom Balkon ihres Zimmers im Büsingstift.
Kontaktaufnahme: Holger Ahrensdorf (links, am Eingang des Büsingstifts) telefoniert mit seinem Mutter oder sie winken sich zu. Sie vom ersten Stock aus, er unten am Wallgraben.
sche Landesregierung am 18. Mai öffentlich ankündigte, ab dem 20. Mai dürften Heimbewohner wieder von einer festen Person Besucher empfangen, glaubte der 60-Jährige, bald wieder auf das Zimmer seiner Mutter zu dürfen – unter Einhaltung der Hygienevorschriften „Doch von Besuchsmöglichkeiten möchte ich nicht sprechen, sondern nur von Kontaktmöglichkeiten“, kritisiert Ahrensdorf die
Angelika Mielke-Rüscher
aktuelle Lage. Denn die laut Verordnung von jedem Pflegeheim geforderten Hygienekonzepte schränkten diese Besuchsrechte wieder stark ein.
„Jeder Besuchskontakt ist noch weit ab von bisheriger Normalität“, sagt Angelika Mielke-Rüscher, Leiterin des Lambertistiftes. Viele Angehörige hätten nach der Berichterstattung über die Lockerung des Besuchsrechtes gedacht, alles werde wieder unkompliziert. „Ist es aber nicht“, so Mielke-Rüscher. Laut Verordnung sind Besuche sind nur möglich unter Einhaltung eines Mindestabstands (geför
durch Glasscheiben oder Hindernisse) und ohne Berührung. Weitere Auflagen sind zum Beispiel durchgehendes Tragen von Mund-NasenSchutz, keinerlei Nahrungsaufnahme während des Besuches, Dokumentation sowie die Einweisung in Hygiene durch das Personal.
„Weiterhin gibt es keinerlei Möglichkeit zu einer Kommunikation über Berührung oder Mimik. Gerade für Menschen mit dementieller Erkrankung sind dies oftmals die einzigen Möglichkeiten einer Kontaktaufnahme“, sagt die Heimleiterin. Die Lage sei für alle schwierig. „Es gibt Angehörige, die uns beschimpfen. Das ist bitter. Ich hätte es auch gern anders. Aber ich muss an die Bewohner denken und letztlich auch an meinen Job.“
Kein Familienersatz
„Soziale Isolation von Bewohnern“, davon werde jetzt vielfach gesprochen, weiß Angelika Mielke-Rüscher. Sie sagt dazu: „Wir ersetzen keine Familie, wenn man sorgende Kinder hat. Und natürlich ist es für die Menschen schlimm, die Angehörigen nicht sehen zu können, aber viele Menschen leben in unserer Gemeinschaft sozial wesentlich eingebundener als in ihrer vorangegangenen Häuslichkeit.“
Dem Schlagwort „Einkasernierung“hält sie entgegen: „Wenn dem so wäre, hätten wir die größte Menschenrechtsverletzung der letzten
Jahrzehnte in der Bundesrepublik. Heimbewohner können sich frei bewegen und das Haus sowie das Gelände verlassen. Alle Heime sind verpflichtet, den Bewohnern davon abzuraten und ihnen das Risiko zu verdeutlichen, aber festhalten dürfen wir – solange kein Ausbruchgeschehen ist – niemanden.“
Für insgesamt neun Heime, darunter sieben eigene, in der Region ist das Diakonische Werk Oldenburg Land zuständig. Dessen Vorstand, Uwe Kollmann, hatte die Ankündigung des Landes Niedersachsen zur Lockerung der Besuchsrechte heftig als „Schnellschuss“kritisiert (Ð vom 20. Mai). Zu diesem Zeitpunkt hatte die Diakonie den Gesundheitsämtern bereits Hygienekonzepte vorgelegt, die von den Behörden noch nicht genehmigt worden waren. „Ständige geänderte Rahmenbedingungen machen es schwierig“, sagt Kollmann eine Woche später. Es gebe viele Bedarfe, es seien viele Hoffnungen geweckt worden. Die Situation ist für alle belastend. Jeden Tag tagt ein Krisenstab.“
Schon früh habe die Diakonie „Fensterbesuche“organisiert, betont Uwe Kollmann. Auch im Büsingstift. In der Tat werde mit einer Art Babyphone kommuniziert. „Dann müssen die Bewohner nichts in der Hand halten.“Bettlägerige Personen dürften von einer Bezugsperson nach Absprache und unter Einhaltung detaillierter Regelungen in
ihrem Zimmer besucht werden. Und in extremen Situationen, etwa, wenn ein Mensch im Sterben liege, hätten die Heime schon bisher Ausnahmen ermöglicht, sagt der Diakonie-Vorstand.
Die Bewohner seien auch nicht eingesperrt, man habe ihnen aber dringend angeraten, das Haus nicht zu verlassen, so Kollmann. Denn bei der Rückkehr liege eine „Quarantänesituation“vor. Das bedeute, sie müssten 14 Tage auf ihrem Zimmer bleiben.
Amt als Berater
Viel zu tun hat auch der Leiter des Oldenburger Gesundheitsamts, Dr. Holger Petermann. Hygienekonzepte muss seine Behörde nun aber nicht mehr genehmigen. Auf Anfrage der Ð sagt Petermann: „Mit der neuen Verordnung ab dem 25. Mai 2020 müssen die Hygienekonzepte dem Gesundheitsamt Oldenburg nicht mehr zur Zulassung vorgelegt werden. Sie müssen nur auf Anforderung vorgelegt werden. Wie immer unterstützen wir beratend, wenn die Einrichtungen Fragen bei der Erstellung Ihres Hygienekonzeptes haben.“
Derweil freut sich Martha Ahrensdorf über ihren neu bepflanzten Balkonkästen. Die hat ihr Sohn ihr geschenkt, Mit „Englischen Geranien“. Die hat er ihr aber nicht persönlich aufs Zimmer gebracht, sondern am Eingang des Heims abgegeben.