Nordwest-Zeitung

Nähe zum Nächsten nur auf Distanz

Besuchskon­takte in Pflegeheim­en sind noch weitab von der bisherigen Normalität

- VON SUSANNE GLOGER

Mit Mundschutz und hinter Glas: Nur so kann man im Moment Kontakt zu seinen Liebsten in Pflegeheim­en aufnehmen. Bittere Szenen spielen sich da ab.

OLDENBURG – Seine Mutter hat er schon lange nicht mehr in den Arm genommen. Auch nicht, als sie 99 Jahre alt geworden ist. Das war am 18. Mai. Mit Sekt zugeproste­t hat Holger Ahrensdorf ihr an diesem Tag aber doch. Das ist so Tradition bei ihnen. Nur diesmal war alles anders. Denn Martha Ahrensdorf stand auf dem Balkon ihres Zimmers im ersten Stock des Büsingstif­ts. Ihr Sohn und ihr Neffe winkten ihr vom Wallgraben aus zu.

Er habe sich sehr um eine Ausnahme aus besonderem Anlass bemüht, erzählt Holger Ahrensdorf. „Für den Geburtstag wurde meiner Mutter lediglich ein Kontakt durch eine geschlosse­ne Scheibe, die den Wohnbereic­h des Heimes und das dazugehöri­ge Café voneinande­r trennt, vom Heim angeboten, das sogenannte Besucherfe­nster. Die Verständig­ung sollte mit Mundschutz durch ein Babyphone erfolgen. Diese Art des Kontaktes wollten meine Mutter und ich nicht, da dies für uns keine Form der Kommunikat­ion darstellt.“Im Nachhinein sei er auch ganz froh gewesen, nicht das „Besucherfe­nster“gewählt zu haben, sagt Ahrensdorf im Gespräch mit der Ð: „Das wäre viel zu emotional geworden.“

Beim Besuch geweint

Ein anderer Fall: Mit Mundschutz, hinter Glas und nach vorher vereinbart­em Termin kann auch die Petersfehn­erin (die nicht namentlich genannte werden möchte) ihrem Mann im DRK-Pflegeheim Erlenhof in Bloherfeld­e begegnen. Das erste Mal am Besucherfe­nster und unter diesen Voraussetz­ungen sei furchtbar gewesen, sagt die 71-Jährige: „Er saß drinnen, ich draußen. Er reagierte gar nicht auf mich. Die Scheibe spiegelte auch so. Ich musste weinen.“

Ihr Mann sei an einer speziellen Form von Parkinson erkrankt, erzählt sie. Seit Oktober 2019 wohnt der 72-Jährige im Erlenhof. „Ich war jeden zweiten Tag bei ihm und habe ihn im Rollstuhl herumgefah­ren“, erzählt seine Frau. Dann kam Corona und damit der Besuchssto­pp. „Er baut immer mehr ab“, sagt die Petersfehn­erin über ihren Mann. „Diese Isolierung ist eine Katastroph­e. Ich weiß, dass sich das Personal viel Mühe gibt.“Am Mittwoch hat die 72-Jährige ihren Mann wieder besucht. Für eine Stunde, in einem Besucherze­lt, durch eine Scheibe getrennt. Sie mit Mundschutz.

Holger Ahrensdorf hat seine Mutter Martha am 16. März zum letzten Mal auf ihrem Zimmer im Büsingstif­t besucht. Als die Niedersäch­sidert

Freut sich über ihre neu bepflanzte­n Balkonkäst­en: Die hat Martha Ahrensdorf zu ihrem 99. Geburtstag von ihrem Sohn Holger bekommen. Mit Sekt zugeproste­t hat sie ihm vom Balkon ihres Zimmers im Büsingstif­t.

Kontaktauf­nahme: Holger Ahrensdorf (links, am Eingang des Büsingstif­ts) telefonier­t mit seinem Mutter oder sie winken sich zu. Sie vom ersten Stock aus, er unten am Wallgraben.

sche Landesregi­erung am 18. Mai öffentlich ankündigte, ab dem 20. Mai dürften Heimbewohn­er wieder von einer festen Person Besucher empfangen, glaubte der 60-Jährige, bald wieder auf das Zimmer seiner Mutter zu dürfen – unter Einhaltung der Hygienevor­schriften „Doch von Besuchsmög­lichkeiten möchte ich nicht sprechen, sondern nur von Kontaktmög­lichkeiten“, kritisiert Ahrensdorf die

Angelika Mielke-Rüscher

aktuelle Lage. Denn die laut Verordnung von jedem Pflegeheim geforderte­n Hygienekon­zepte schränkten diese Besuchsrec­hte wieder stark ein.

„Jeder Besuchskon­takt ist noch weit ab von bisheriger Normalität“, sagt Angelika Mielke-Rüscher, Leiterin des Lambertist­iftes. Viele Angehörige hätten nach der Berichters­tattung über die Lockerung des Besuchsrec­htes gedacht, alles werde wieder unkomplizi­ert. „Ist es aber nicht“, so Mielke-Rüscher. Laut Verordnung sind Besuche sind nur möglich unter Einhaltung eines Mindestabs­tands (geför

durch Glasscheib­en oder Hinderniss­e) und ohne Berührung. Weitere Auflagen sind zum Beispiel durchgehen­des Tragen von Mund-NasenSchut­z, keinerlei Nahrungsau­fnahme während des Besuches, Dokumentat­ion sowie die Einweisung in Hygiene durch das Personal.

„Weiterhin gibt es keinerlei Möglichkei­t zu einer Kommunikat­ion über Berührung oder Mimik. Gerade für Menschen mit dementiell­er Erkrankung sind dies oftmals die einzigen Möglichkei­ten einer Kontaktauf­nahme“, sagt die Heimleiter­in. Die Lage sei für alle schwierig. „Es gibt Angehörige, die uns beschimpfe­n. Das ist bitter. Ich hätte es auch gern anders. Aber ich muss an die Bewohner denken und letztlich auch an meinen Job.“

Kein Familiener­satz

„Soziale Isolation von Bewohnern“, davon werde jetzt vielfach gesprochen, weiß Angelika Mielke-Rüscher. Sie sagt dazu: „Wir ersetzen keine Familie, wenn man sorgende Kinder hat. Und natürlich ist es für die Menschen schlimm, die Angehörige­n nicht sehen zu können, aber viele Menschen leben in unserer Gemeinscha­ft sozial wesentlich eingebunde­ner als in ihrer vorangegan­genen Häuslichke­it.“

Dem Schlagwort „Einkaserni­erung“hält sie entgegen: „Wenn dem so wäre, hätten wir die größte Menschenre­chtsverlet­zung der letzten

Jahrzehnte in der Bundesrepu­blik. Heimbewohn­er können sich frei bewegen und das Haus sowie das Gelände verlassen. Alle Heime sind verpflicht­et, den Bewohnern davon abzuraten und ihnen das Risiko zu verdeutlic­hen, aber festhalten dürfen wir – solange kein Ausbruchge­schehen ist – niemanden.“

Für insgesamt neun Heime, darunter sieben eigene, in der Region ist das Diakonisch­e Werk Oldenburg Land zuständig. Dessen Vorstand, Uwe Kollmann, hatte die Ankündigun­g des Landes Niedersach­sen zur Lockerung der Besuchsrec­hte heftig als „Schnellsch­uss“kritisiert (Ð vom 20. Mai). Zu diesem Zeitpunkt hatte die Diakonie den Gesundheit­sämtern bereits Hygienekon­zepte vorgelegt, die von den Behörden noch nicht genehmigt worden waren. „Ständige geänderte Rahmenbedi­ngungen machen es schwierig“, sagt Kollmann eine Woche später. Es gebe viele Bedarfe, es seien viele Hoffnungen geweckt worden. Die Situation ist für alle belastend. Jeden Tag tagt ein Krisenstab.“

Schon früh habe die Diakonie „Fensterbes­uche“organisier­t, betont Uwe Kollmann. Auch im Büsingstif­t. In der Tat werde mit einer Art Babyphone kommunizie­rt. „Dann müssen die Bewohner nichts in der Hand halten.“Bettlägeri­ge Personen dürften von einer Bezugspers­on nach Absprache und unter Einhaltung detaillier­ter Regelungen in

ihrem Zimmer besucht werden. Und in extremen Situatione­n, etwa, wenn ein Mensch im Sterben liege, hätten die Heime schon bisher Ausnahmen ermöglicht, sagt der Diakonie-Vorstand.

Die Bewohner seien auch nicht eingesperr­t, man habe ihnen aber dringend angeraten, das Haus nicht zu verlassen, so Kollmann. Denn bei der Rückkehr liege eine „Quarantäne­situation“vor. Das bedeute, sie müssten 14 Tage auf ihrem Zimmer bleiben.

Amt als Berater

Viel zu tun hat auch der Leiter des Oldenburge­r Gesundheit­samts, Dr. Holger Petermann. Hygienekon­zepte muss seine Behörde nun aber nicht mehr genehmigen. Auf Anfrage der Ð sagt Petermann: „Mit der neuen Verordnung ab dem 25. Mai 2020 müssen die Hygienekon­zepte dem Gesundheit­samt Oldenburg nicht mehr zur Zulassung vorgelegt werden. Sie müssen nur auf Anforderun­g vorgelegt werden. Wie immer unterstütz­en wir beratend, wenn die Einrichtun­gen Fragen bei der Erstellung Ihres Hygienekon­zeptes haben.“

Derweil freut sich Martha Ahrensdorf über ihren neu bepflanzte­n Balkonkäst­en. Die hat ihr Sohn ihr geschenkt, Mit „Englischen Geranien“. Die hat er ihr aber nicht persönlich aufs Zimmer gebracht, sondern am Eingang des Heims abgegeben.

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BILD: MARTIN REMMERS
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BILDER: MARTIN REMMERS
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