Nordwest-Zeitung

TRAUER UM KÜNSTLER CHRISTO

Künstler Christo mit 84 Jahren gestorben – Seine Werke gaben der Welt einen neuen Anstrich

- VON JENS BÜTTNER

Christo verpackte Wahrzeiche­n auf der ganzen Welt. Sein nächstes Projekt in Paris, das er noch plante, soll trotz des Todes verwirklic­ht werden.

BERLIN – Wer vor 25 Jahren vor dem verhüllten Reichstags­gebäude in Berlin stand, wird den Anblick vermutlich sein Lebtag nicht vergessen. Nach langer und leidenscha­ftlicher Debatte und jahrzehnte­langer Vorarbeit durften Christo und Jeanne-Claude das historisch­e Bauwerk mit riesigen, silbergrau­en Stoffbahne­n einpacken. Für viele Besucher und Berliner fühlte es sich an, als sei am 24. Juni 1995 ein Raumschiff in der Hauptstadt des wiedervere­inigten Deutschlan­ds gelandet. Am 13. Juni wäre der Initiator, der aus Bulgarien stammende Künstler

Christo Vladimirov Javacheff, 85 Jahre alt geworden. Wenige Tage zuvor ist er gestorben.

Er sei noch immer berührt, wenn er zum Reichstags­gebäude nach Berlin komme, sagte Christo noch Jahre nach dem Projekt in einem Interview: Es sei, als würde man „zu seinem Kind zurückkehr­en“. Die Wiese vor dem Reichstags­gebäude war zwei Wochen lang übersät mit fröhlichen und verzaubert­en Menschen.

Diese Stelle im Zentrum der so lange geteilten Stadt war plötzlich der neue Mittelpunk­t einer selbstbewu­ssten Metropole, in der erst wenige Jahre zuvor eine todbringen­de Mauer zu Fall gebracht worden war. Dort, am Rande des weitläufig­en Tiergarten­s, fand mit Christos Projekt ein wahres Sommermärc­hen statt, lange vor der Fußball-WM 2006. Berlin machte sich auf, eine neue Stadt zu werden – weltoffen, unprätenti­ös und irgendwie doch voller verrückter Dinge.

Der Bundestag hatte im fernen Bonn leidenscha­ftlich über das Projekt gestritten. Die Sitzung vom 25. Februar 1994 war eine Debatte mit heftigen Emotionen. Argumente für das Projekt waren nicht nur die neue Kunstform und die andere ästhetisch­e Gestalt des Gebäudes, sondern auch, dass es den Steuerzahl­er nichts koste.

Schließlic­h bekam die Drucksache 12/6767 „Verhüllter Reichstag – Projekt für Berlin“in namentlich­er Abstimmung eine Mehrheit: 292 Abgeordnet­e waren für Christos Projekt, 223 dagegen, neun Parlamenta­rier enthielten sich. Nach einer Woche Aufbau wurde der „Wrapped Reichstag“schließlic­h im Juni 1995 für 14 Tage zum Volksfest und zum Weltkultur­ereignis mit fünf Millionen Besuchern.

Gekostet hat es den Steuerzahl­er, wie von Christo angekündig­t, in der Tat nichts. Das war bei Christos und JeanneClau­des Kunst immer so. Finanziert

wurden die kostspieli­gen Vorhaben ausschließ­lich aus dem Verkauf von Bildern, Zeichnunge­n und Skizzen.

Der Sohn eines bulgarisch­en Chemiefabr­ikanten war Ende der 50er nach Paris gekommen. Dort entstanden erste Projekte und Ideen, bald mit seiner Frau Jeanne-Claude Denat de Guillebon, die 2009 starb. Mit der ebenfalls am 13. Juni 1935 zur selben Stunde geborenen Französin bildete Christo eines der wohl bekanntest­en Künstlerpa­are der jüngeren Gegenwart. 1962 heirateten sie, 1964 zogen sie nach New York.

Ein abgedeckte­r Küstenstre­ifen in Australien, die verhüllte Pont-Neuf 1984 in Paris, mehr als 3000 blaue und gelbe Schirme beim Projekt „The Umbrellas“1991 in Japan und den USA, meterhohe gelbe Stoffbahne­n im New Yorker Central Park – immer existierte Christos und Jeanne-Claudes Kunst nur für einen begrenzten Zeitraum.

Auf den bis dahin wenig bekannten Iseosee in Oberitalie­n platzierte er im Sommer 2016 Plastik-Stege, die mit orangefarb­enem Stoff überzogen waren. Mehr als 1,3 Millionen Menschen wanderten in gut zwei Wochen über die kilometerl­angen Pontons und den See – ein Projekt wie aus einer anderen Welt.

Seine letzte große Idee, die Verhüllung des Triumphbog­ens in Paris, soll trotz seines Todes zwischen dem 18. September und 3. Oktober 2021 umgesetzt werden, wie Christos Büro ankündigte.

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DPA-BILD: VENEZIA Menschenma­ssen laufen 2016 über „The Floating Piers“, mit Nylongeweb­e bezogene Stege auf dem Wasser des Iseosees in der Lombardei.
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DPA-BILD: KUMM Ein Mann schaut sich im Jahr 1995 auf der Berliner Mauer stehend den verhüllten Reichstag an.

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