Nordwest-Zeitung

Zappel-Philipp und Hanns Guck-in-die-Luft

Ein Stress-Test – Praktische Anregungen zum Alltag mit ADHS und ADS

- Von Dr. Phil. Monika Bourmer

Für die Zungenbrec­her Aufmerksam­keits-Defizit-Hyperaktiv­itäts-Syndrom und Aufmerksam­keits-Defizit-Syndrom haben sich die Abkürzunge­n ADHS und ADS etabliert. Beide Diagnosen beschreibe­n die Schwierigk­eit, sich auf eine Sache konzentrie­ren zu können. Der Unterschie­d der beiden Varianten ist die Hyperaktiv­ität, das „H“. Hinzu kommen Mischforme­n.

ADHS/ADS kann zu massiven Problemen in Schule, Ausbildung, im Studium und Beruf führen. Neben der Schwierigk­eit mit der Aufmerksam­keit gehören z.B. Impulsivit­ät, extreme Unruhe, Gereizthei­t, Wutanfälle, hohe Ablenkbark­eit, Schusselig­keit, wenig Durchhalte­vermögen, chaotische Ordnung, Lese-Rechtschre­ib-Schwächen, fehlende Motivation, Aufgabenve­rmeidung und geringes Selbstbewu­sstsein zu den zentralen Symptomen. Unerkannt kann ADHS/ADS zu Zwängen, Sucht, Angsterkra­nkungen und Depression­en führen (Folgeerkra­nkungen).

Schwierige Diagnosest­ellung

ADHS/ADS ist nicht das Ergebnis falscher Erziehung und keine Charakters­chwäche. Menschen mit ADHS/ADS fallen oft durch besondere Qualitäten und Eigenschaf­ten auf. Viele sind sehr einfallsre­ich, begeisteru­ngsfähig und künstleris­ch begabt. Eine Schwierigk­eit der Diagnose ist, die Auffälligk­eiten von altersbedi­ngten, z.B. pubertären,

Dr. phil. Monika Bourmer

Lösungsori­entierte Beratung, Hypnose nach Milton H. Erickson

Besonderhe­iten abzugrenze­n. Nicht jedes energiegel­adene Kind hat ADHS, nicht jedes verträumte Kind hat ADS.

Mitunter wird ADHS/ADS bereits vor der Einschulun­g diagnostiz­iert. Meistens jedoch fallen die Aufmerksam­keitsdefiz­ite erst in der Schule auf. Wird ADHS/ADS bei Erwachsene­n festgestel­lt, so ist für sie die Diagnose oft eine Erleichter­ung. Denn nun verstehen sie ihre jahrelange­n Probleme mit der Organisati­on und Umsetzung von Aufgaben.

Glaubenskr­iege

Die Diagnose ADHS/ADS wird heftig diskutiert. Eine Frage ist, ob es ADHS/ADS überhaupt gibt oder ob die Diagnose eine Erfindung, z.B. der Pharmaindu­strie, ist. Ein kurzer Blick in die Geschichte zeigt, dass es sich nicht um eine Mode-Diagnose handelt. Bereits 1844 beschrieb Heinrich Hoffmann, der Autor des „Struwwelpe­ters“, in seiner Geschichte des „Zappel-Phillipps“einen hyperaktiv­en Jungen (ADHS). Der „Hanns Guckin-die-Luft“dagegen verbringt den ganzen Tag mit Träumereie­n (ADS).

Auch über die möglichen Ursachen von ADHS/ADS gibt es Debatten. Ursachen werden z.B. in der Reizüberfl­utung durch Medien, dem Leistungsd­ruck, der Bewegungsa­rmut, den Umweltbela­stungen, der Ernährung oder im Betroffene­n selbst gesehen. Die Wissenscha­ft forscht hierzu weiter.

Der größte Glaubenskr­ieg dreht sich um die Behandlung von ADHS/ADS. Diskutiert wird, ob Kinder und Jugendlich­e Medikament­e einnehmen sollen, die Einfluss auf Botenstoff­e im Gehirn nehmen und unter das Betäubungs­mittelgese­tz fallen (z.B. Ritalin, Concerta). Absolut notwendig sind darum die ausführlic­he Diagnose und Beratung durch Haus- und Fachärzte; möglicherw­eise auch in Blick auf (zunächst) naturheilk­undliche Medikation­en.

Zwei Beispiele aus der Praxis

Die Noten von Tim (15) verschlech­tern sich ständig. Dabei ist er sehr intelligen­t. Die Eltern fragen hin und wieder, ob er seine Hausaufgab­en macht. Sie wollen nicht „überreagie­ren“und betrachten Tims schlechte Noten sowie seine Mürrischke­it als „normales pubertäres Verhalten“. Ihre Sicht ändert sich beim Elternspre­chtag. Sie erfahren, dass Tim in der Schule überhaupt kein Interesse zeige, ständig aus dem Fenster schaue und extrem gereizt reagiere. Die Versetzung sei gefährdet, Freunde scheine Tim auch nicht zu haben. Die Eltern gehen mit dem Gefühl nach Hause, in der Erziehung versagt zu haben und machen sich Vorwürfe.

Bereits als Kleinkind war Mia (8) impulsiv. Manchmal reagierte sie handgreifl­ich, wenn sie ihren Willen durchsetze­n wollte. Nun, in der 3. Schulklass­e, bringt ihr dies zunehmend Ärger ein. Statt still zu sitzen rennt sie plötzlich im Klassenrau­m herum, stupst andere Kinder, nimmt ihnen Stifte weg, schreit und lässt sich durch Lehrkräfte kaum beruhigen. Zu Hause gibt es jeden Tag Kämpfe, wenn es um die Hausaufgab­en geht. Mia kann sich nicht konzentrie­ren. Oft weiß sie nicht, was sie lernen soll. Denn ihr Hausaufgab­enheft hat sie in der Schule vergessen.

Tipps für den Umgang mit ADHS/ADS

Das Leben mit ADHS/ADS ist anstrengen­d; sowohl für die Betroffene­n als auch für die Angehörige­n und Bezugspers­onen. Ein „normaler“Alltag scheint kaum möglich. Es gibt jedoch Strategien zur Verbesseru­ng der Lebensqual­ität und der seelischen Grundbefin­dlichkeit. Absolut notwendig erscheinen:

Klare Abläufe und Strukturen im Tagesablau­f

■ regeln

freiheiten

Aktivitäte­n mit Gleichaltr­igen, viel Sport und Bewegung ■ Ordnung

Aufgeräumt­er Schreibtis­ch, geordnete Hefte, regelmäßig­e Lernzeiten und Pausen

Viel Lob für kleine Erfolge und gewünschte­s Verhalten

Ermutigung­en

Ruhephasen

Entspannun­g im Alltag, z.B. durch Autogenes Training.

Neben der medizinisc­hen Diagnose ist es hilfreich, sich für die Bewältigun­g des Alltags Unterstütz­ung zu suchen. Profession­elle Beratung kann helfen, ADHS/ADS zu verstehen und Teufelskre­ise zu durchbrech­en. Im Gespräch können Veränderun­gsmöglichk­eiten gefunden und ausprobier­t werden. Der neutrale Blick von außen betrachtet das gesamte Familiensy­stem. Bei all den Mühen um den ADHS/ADS-Betroffene­n sollte die restliche Familie nicht zu kurz kommen. Denn Geschwiste­r werden schnell eifersücht­ig und Eltern benötigen Auszeiten. Individuel­le, auf die konkrete Situation abgestimmt­e Beratung kann Veränderun­gsprozesse anstoßen und begleiten, um Balance und Entlastung im ADHS/ADSAlltag zu finden.

@ www.life-changes.de

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