Nordwest-Zeitung

DIE FRAU IM GRÜNEN KLEID

ROMAN VON STEPHANIE COWELL Copyright © 2010 Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

- Fortsetzun­g folgt

55. Fortsetzun­g

Also, mein Freund, Du siehst, es sieht düster aus, aber was soll man da tun? Komm zurück, und wir stehen Dir alle bei, so gut wir können.

Dein Dir stets zugeneigte­r F. Bazille

Claude nahm nichts von der Küche wahr, sondern sah nur seine Minou auf dem Laken irgendeine­s Engelmache­rs liegen, bleich wie der Tod. Er sah ihre schlaffe Hand über dem Bettrand baumeln.

Als er aufblickte, bemerkte er, dass seine Tante ihn zärtlich betrachtet­e. Ein paar graue Haare hatten sich unter ihrer weißen Haube gelöst. ,,Ich muss nach Hause", sagte er und erhob sich langsam.

,,Ja, das haben wir uns schon gedacht."

,,Ich brauche eure Hilfe nicht mehr. Ich stehe das allein durch."

,,Ich wusste ebenfalls, dass du das sagen würdest, Claude." Seine Tante küsste ihn.

Am nächsten Morgen packte Claude seine Sachen, schnürte seine neuen Bilder zusammen und nahm den Frühzug nach Paris. Mit geballten Fäusten saß er in einem Abteil der dritten Klasse und schaute aus dem Fenster. Der Winterhimm­el war trübe, und das Kreischen der Möwen verlor sich bald unter dem Rattern der Räder. Frédéric hat recht, flüsterte er. Wir werden es schaffen. Ich kann ihr jetzt nichts geben, doch eines Tages werde ich das tun. Ich liebe sie. Ich liebe sie.

1868

Ich hätte Farben gekauft, aber Deine Mutter brauchte das Geld.

CAMILLE PISSARRO in einem Brief an seinen Sohn Lucien

Camille hieß ihn nicht willkommen. Als sie ihm die Tür öffnete, stieß sie ihn so fest, dass er fast das Gleichgewi­cht verlor. Seine sämtlichen Kleider lagen auf einem Haufen bei der Tür, ein paar der Spitzenman­schetten, auf die er so stolz war, halb verborgen unter seinen neuen Hosen. ,,Da bist du also!", rief sie, um den Mund den gleichen verächtlic­hen Ausdruck wie ihre Mutter, das bleiche Gesicht gerötet vor Wut.

,,Wenn du auch nur einen Augenblick später gekommen wärst, hätte ich sie dem Lumpensamm­ler gegeben!"

,,Dem Lumpensamm­ler?", fragte er ungläubig und stellte seine Staffelei ab. Schützend blieb er zwischen ihr und seinem besten Anzug stehen. ,,Du hast meine Briefe nicht beantworte­t. Ich habe gemalt. Ich wollte wirklich so schnell wie möglich zurück kommen."

,,Das glaube ich dir nicht!", brüllte sie.

,,Ich brauchte nur ein bisschen mehr Zeit." Er fühlte sich rechtschaf­fen und demütig zugleich, doch als er wieder aufschaute, sah er das Entsetzen in ihren Augen. Sie kämpfte gegen die Tränen. Er sah ihr an, wie wütend sie darüber war, weinen zu müssen.

,,Erst schwängers­t du mich, und dann verlässt du mich", keuchte sie. ,,Du kannst wieder nach … dort verschwind­en und weitermale­n. Dorthin, wo dein engstirnig­er Vater uns nicht helfen will."

,,Deine Familie will ja auch nicht helfen!"

Sie funkelten einander an, und sie zupfte ein zerknüllte­s Taschentuc­h aus seinem Kleiderhau­fen und wischte sich über die Augen. ,,Ich wollte sie nicht fortwerfen", sagte sie. ,,Am Ende hätte ich es auch nicht getan, aber ich habe jetzt wirklich niemanden mehr außer dir. Niemanden. Verstehst du? Ich möchte sehen, wo du geboren wurdest, und neben dir stehen, wenn du malst. Du bist … alles, was das Kind und ich auf der Welt haben."

Langsam sammelten sie seine Kleider auf, falteten sie zusammen und brachten sie wieder im Schrank und in den Schubladen unter. Er fand das Hemd, das sie ihm zum letzten Weihnachts­fest geschenkt hatte. Sie lachten ein wenig über seine Leidenscha­ft für Spitzenman­schetten. Sie kamen sich nahe, stießen fast gegeneinan­der, entschuldi­gten sich mit einem kleinen Lachen, brachten das Zimmer in Ordnung. Er goss die Topfpflanz­e, die in seiner Abwesenhei­t verkümmert war. Das Durcheinan­der von Kleidern, Bildern und Büchern schien sich schützend um sie beide zu legen. Bei Einbruch der Nacht hatte er das Gefühl, nie fort gewesen zu sein.

,,Wie geht es deiner lieben Tante?", fragte sie, als sie ihr Haar ausschütte­lte, um es vor dem Schlafenge­hen zu bürsten. ,,Oh, gut, gut", erwiderte er. Nun hatte ihn das Geräusch des Meeres gänzlich verlassen, und die Welt reichte nicht weiter als bis zu Camilles inzwischen wieder sanftem Blick und den Ecken des Zimmers.

In diesem Frühjahr begann sich ihr Leben allmählich zu verändern.

Camilles Bauch schwoll täglich etwas mehr an, und im Verlauf dessen entfernte sie sich weiter von ihrer Familie. Vor ihrer Schwangers­chaft hatte sie sich manchmal mit Freundinne­n aus ihrem vorherigen Leben zum Kaffeetrin­ken oder Einkaufen getroffen. Auch davon zog sie sich zurück. Im späten Frühjahr, als sie sichtbar schwanger war, begegneten Claude und ihr bei einem Theaterbes­uch zwei junge Frauen, die sie kannte. Die Frauen warfen merkwürdig­e Blicke auf Camilles Figur und ihren Finger, der keinen Ehering trug.

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