Annäherung noch in der Schwebe
Warum die EU die Ukraine enger an sich binden will – Präsident Selenskyj in Brüssel
Brüssel/Kiew – Es ist der erste „echte“Gipfel mit persönlichem Treffen statt Videokonferenz, den die EU seit Beginn der Corona-Krise mit einem Staatschef abhält. Beim Besuch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj schweben aber noch andere bedrohliche Themen über den Teilnehmern. Der Konflikt im Nachbarland Belarus wird nach der eigenen blutigen Geschichte prowestlicher Proteste auch in Kiew genau beobachtet. Und beim eingeschlagenen Westkurs müssen Ukraine, EU und Nato vorsichtig gegenüber Russland sein.
Die aktuelle Lage im Überblick:
Warum will Kiew eine ? stärkere West-Ausrichtung
Schon länger strebt die riesige Ex-Sowjetrepublik außenpolitisch nach Westen. Vor allem junge und liberale Ukrainer befürworten das. Doch An
hänger Russlands und der Kreml lehnen diese Orientierung strikt ab. Seit 2014 kämpfen Regierungseinheiten im Bergbaurevier Donbass gegen von Moskau unterstützte Separatisten. Laut UN-Schätzungen starben mehr als 13 000 Menschen. Russland besetzte nach einem prowestlichen Regierungssturz die völkerrechtlich zur Ukraine gehörende Krim.
Die humanitäre Lage in den russisch kontrollierten Gebieten
habe sich jüngst zugespitzt, berichten EU-Diplomaten besorgt: „Wir möchten von Herrn Selenskyj wissen, wie er die Situation vor Ort sieht.“
Ein 2015 unter deutschfranzösischer Vermittlung vereinbarter Friedensplan – das Minsker Abkommen – ist nur ansatzweise umgesetzt. Doch der 2019 gewählte Selenskyj hält am Westkurs seines Vorgängers Petro Poroschenko fest, mit Mitgliedschaft in EU und Nato.
Was hat die Lage in Belarus ? mit der Ukraine zu tun
Bei den „Euromaidan“-Protesten 2013/2014 waren Sicherheitskräfte in Kiew massiv gegen Demonstranten vorgegangen. Es gab Dutzende Tote. Auslöser war der Beschluss des russlandfreundlichen Präsidenten Viktor Janukowitsch, ein Assoziierungsabkommen mit der EU nicht zu unterzeichnen. Die Lage im benachbarten Belarus erinnert so manchen an die damaligen Vorgänge. Das Regime von Präsident Alexander Lukaschenko soll bei der Wahl am 9. August Ergebnisse manipuliert haben. Die EU will eine „zweite Ukraine“im Sinne eines langen Konflikts unbedingt verhindern.
Wie ist der Stand ? zwischen Ukraine und EU
Offiziell stehen in Brüssel die nächsten Schritte zur Umsetzung des Assoziierungsabkommens und Vertiefung des Freihandels auf der Agenda.
Seit dem Inkrafttreten im Januar 2016 habe es einen Zuwachs des bilateralen Handels um 65 Prozent gegeben, so die EU-Seite. „Wegen Corona haben wir derzeit nicht den positiven Effekt, den wir erhofft haben.“Über Wirtschaftskontakte und Handelsvorteile versucht die EU, befreundete Nichtmitglieder an sich heranzuführen, der Außenbeauftragte Josep Borrell hatte die Ukraine kürzlich besucht.
Wie kommen die Reformen ? in der Ukraine voran
Nach Vorstellungen der EU muss die Führung in Kiew Verwaltung und Justiz noch mehr modernisieren. Die Ukraine soll rechtsstaatliche Verfahren und eine effektivere Korruptionsbekämpfung sicherstellen – Bedingungen, welche die EU auch anderen assoziierten Ländern stellt. Die von Kiew anvisierten Beitrittsverhandlungen erfordern die Umsetzung einer langen Liste an Kriterien – unter anderem lässt laut EU die Medienvielfalt noch zu wünschen übrig.