Warum Vorlesen so wichtig ist
Schriftstellerin Kirsten Boie ist Schirmfrau der Kinderbuchmesse 2020 in Oldenburg
Lesen verbindet – zum Beispiel unsere Redaktion mit Ihnen als Leserinnen und Leser. Wissen ist die Voraussetzung, um sich mit den Ereignissen in aller Welt, aber auch in der eigenen Nachbarschaft, auseinanderzusetzen.
Grundlage fürs Lesen ist wiederum das Vorlesen, was im Elternhaus immer seltener geschieht. Meine Kollegin Tonia Hysky aus der Kulturredaktion hat die BestsellerAutorin Kirsten Boie gefragt, warum Lesen gerade auch für Kinder der Schlüssel zu allem ist. Die Hamburgerin muss es wissen: Mit ihren Kinderbüchern wie „Der kleine Ritter Trenk“und „Möwenweg“feiert sie große Erfolge.
Die fehlende Fähigkeit, lesen zu können, ist für die Gesellschaft eine Katastrophe, sagt die Hamburgerin. Warum das auch für die Demokratie gefährlich ist, das erklärt Kirsten Boie im Gespräch mit unserer Redaktion.
Warum ist es für Sie wichtig, dass jedes Kind lesen lernt? Boie: Ich sage immer, lesen zu können, ist das Nadelöhr in die Gesellschaft. Denn Menschen, die nicht lesen können, haben in unserer Gesellschaft auf keinem Gebiet Perspektiven. Welchen Beruf könnten Sie erlernen, wenn Sie nicht lesen können? Selbst wenn Sie einen Führerschein machen wollen ist es schon schwierig. Beruflich und auch im Alltagsleben ist es die größte Einschränkung überhaupt. Und es ist für die Demokratie wirklich gefährlich – weil Meinungsbildungsprozesse bis heute zum großen Teil in der Auseinandersetzung mit Texten stattfinden. Zumindest komplexe Prozesse, bei denen es auch um kompliziertere Themen geht. Die fehlende Fähigkeit, lesen zu können, ist nicht nur für den einzelnen Menschen eine Katastrophe, sondern auch für die Gesellschaft.
Welche Rolle bei der späteren Freude am Lesen spielt das Vorlesen in der Kindheit? Boie: Eine ganz große Rolle – weil Kinder heute in einer visuellen Kultur aufwachsen. Wenn sie dann nur eine Geschichte hören, ohne Bild, zudem sie sich selbst Bilder ausmalen müssen, fällt das vielen ganz schwer. Das können Lehrer aufbauen, aber noch besser ist es, wenn die Kinder das noch vor der Schule erleben und auch wissen, wenn sie lesen lernen, wozu sie das können wollen. Das fehlt den Kindern, denen nie vorgelesen wurde.
In Kitas und Kindergärten? Boie: Es ist auch eine wichtige Aufgabe in den Kitas. Die Weichen werden eigentlich schon vor der Einschulung gestellt – sowohl was die Sprachfähigkeit der Kinder betrifft – Wortschatz und eine Kenntnis der Syntax – aber eben auch, wie ich mit Geschichten und Büchern umgehe. Das ist zwar noch längst nicht überall angekommen, es passiert aber schon mehr. Es muss unbedingt stärker in der Erzieherausbildung verankert werden. Auch, dass sich die Erzieherinnen und Erzieher das Vorlesen zutrauen.
Sie schreiben in Ihrem Buch „Das Lesen und ich“, dass Sie sich das Lesen zunächst selbst beibrachten. Können Sie sich noch an den ersten Satz erinnern, den Sie entzifferten? Boie: Daran kann ich mich nicht mehr erinnern, ich war ungefähr fünf Jahre alt. Aber ich kann mich an das erste Wort noch wahnsinnig gut erinnern. Es war der Name „Pape“. Da weiß ich bis heute, dass das eine unglaublich aufregende Erfahrung war. Woran ich mich auch noch erinnern kann, ist die erste Geschichte, die ich auf Butterbrotpapier geschrieben habe. In meiner Erinnerung saß ich auf einem Gitterbett.
Wie wichtig ist heute noch die Fähigkeit, lesen zu können – wenn ich doch viel über Visuelles aufnehmen kann? Boie: Man kann nicht alles über das Visuelle aufnehmen. Wie wollen Sie irgendeine berufliche Qualifikation erreichen – und ich rede nicht vom Studium, um Anwalt oder Ingenieur zu werden. Sondern vom Maler oder Bäcker. Es gibt keinen Ausbildungsberuf, den ich erlernen kann, wenn ich nicht sinnentnehmend lesen kann. Bedeutet, dass man hinterher auch weiß, was man gelesen hat – 20 Prozent unserer Kinder können das mit zehn Jahren noch nicht.
Was bedeutet denn eine Veranstaltung wie die Oldenburger Kinderbuchmesse für Sie? Boie: Gerade wenn wir uns vorstellen, dass für viele Kinder andere Medien ja sehr viel attraktiver sind, kann etwas wie die Kibum dazu beitragen, dass Bücher attraktiver werden. Es ist erst mal ein großes Event – und wenn die Kinder an einer Lesung teilnehmen, kann das für viele unglaublich wichtig sein. Und ich denke, dass gerade Kinder aus buchfernen Familien durch die Kibum erreicht werden. Dadurch, dass es eben Schulveranstaltungen oder Kitaveranstaltungen sind. Das heißt, ob die Kinder hingehen oder nicht, ist hier nicht vom Elternhaus abhängig, wie das bei öffentlichen Lesungen der Fall wäre.
Wie kamen Sie zum Titel „Schirmfrau“der Kibum? Boie: Das ist sozusagen eine Ehre, die mir angetragen worden ist. Ich wurde gefragt, ob ich das machen möchte – und ich habe mich sehr geehrt gefühlt und gefreut!