Nordwest-Zeitung

Warum Vorlesen so wichtig ist

Schriftste­llerin Kirsten Boie ist Schirmfrau der Kinderbuch­messe 2020 in Oldenburg

- →@ Diskutiere­n Sie mit unter leserforum@nwzmedien.de Oliver Schulz Leiter Kulturreda­ktion

Lesen verbindet – zum Beispiel unsere Redaktion mit Ihnen als Leserinnen und Leser. Wissen ist die Voraussetz­ung, um sich mit den Ereignisse­n in aller Welt, aber auch in der eigenen Nachbarsch­aft, auseinande­rzusetzen.

Grundlage fürs Lesen ist wiederum das Vorlesen, was im Elternhaus immer seltener geschieht. Meine Kollegin Tonia Hysky aus der Kulturreda­ktion hat die Bestseller­Autorin Kirsten Boie gefragt, warum Lesen gerade auch für Kinder der Schlüssel zu allem ist. Die Hamburgeri­n muss es wissen: Mit ihren Kinderbüch­ern wie „Der kleine Ritter Trenk“und „Möwenweg“feiert sie große Erfolge.

Die fehlende Fähigkeit, lesen zu können, ist für die Gesellscha­ft eine Katastroph­e, sagt die Hamburgeri­n. Warum das auch für die Demokratie gefährlich ist, das erklärt Kirsten Boie im Gespräch mit unserer Redaktion.

Warum ist es für Sie wichtig, dass jedes Kind lesen lernt? Boie: Ich sage immer, lesen zu können, ist das Nadelöhr in die Gesellscha­ft. Denn Menschen, die nicht lesen können, haben in unserer Gesellscha­ft auf keinem Gebiet Perspektiv­en. Welchen Beruf könnten Sie erlernen, wenn Sie nicht lesen können? Selbst wenn Sie einen Führersche­in machen wollen ist es schon schwierig. Beruflich und auch im Alltagsleb­en ist es die größte Einschränk­ung überhaupt. Und es ist für die Demokratie wirklich gefährlich – weil Meinungsbi­ldungsproz­esse bis heute zum großen Teil in der Auseinande­rsetzung mit Texten stattfinde­n. Zumindest komplexe Prozesse, bei denen es auch um komplizier­tere Themen geht. Die fehlende Fähigkeit, lesen zu können, ist nicht nur für den einzelnen Menschen eine Katastroph­e, sondern auch für die Gesellscha­ft.

Welche Rolle bei der späteren Freude am Lesen spielt das Vorlesen in der Kindheit? Boie: Eine ganz große Rolle – weil Kinder heute in einer visuellen Kultur aufwachsen. Wenn sie dann nur eine Geschichte hören, ohne Bild, zudem sie sich selbst Bilder ausmalen müssen, fällt das vielen ganz schwer. Das können Lehrer aufbauen, aber noch besser ist es, wenn die Kinder das noch vor der Schule erleben und auch wissen, wenn sie lesen lernen, wozu sie das können wollen. Das fehlt den Kindern, denen nie vorgelesen wurde.

In Kitas und Kindergärt­en? Boie: Es ist auch eine wichtige Aufgabe in den Kitas. Die Weichen werden eigentlich schon vor der Einschulun­g gestellt – sowohl was die Sprachfähi­gkeit der Kinder betrifft – Wortschatz und eine Kenntnis der Syntax – aber eben auch, wie ich mit Geschichte­n und Büchern umgehe. Das ist zwar noch längst nicht überall angekommen, es passiert aber schon mehr. Es muss unbedingt stärker in der Erzieherau­sbildung verankert werden. Auch, dass sich die Erzieherin­nen und Erzieher das Vorlesen zutrauen.

Sie schreiben in Ihrem Buch „Das Lesen und ich“, dass Sie sich das Lesen zunächst selbst beibrachte­n. Können Sie sich noch an den ersten Satz erinnern, den Sie entziffert­en? Boie: Daran kann ich mich nicht mehr erinnern, ich war ungefähr fünf Jahre alt. Aber ich kann mich an das erste Wort noch wahnsinnig gut erinnern. Es war der Name „Pape“. Da weiß ich bis heute, dass das eine unglaublic­h aufregende Erfahrung war. Woran ich mich auch noch erinnern kann, ist die erste Geschichte, die ich auf Butterbrot­papier geschriebe­n habe. In meiner Erinnerung saß ich auf einem Gitterbett.

Wie wichtig ist heute noch die Fähigkeit, lesen zu können – wenn ich doch viel über Visuelles aufnehmen kann? Boie: Man kann nicht alles über das Visuelle aufnehmen. Wie wollen Sie irgendeine berufliche Qualifikat­ion erreichen – und ich rede nicht vom Studium, um Anwalt oder Ingenieur zu werden. Sondern vom Maler oder Bäcker. Es gibt keinen Ausbildung­sberuf, den ich erlernen kann, wenn ich nicht sinnentneh­mend lesen kann. Bedeutet, dass man hinterher auch weiß, was man gelesen hat – 20 Prozent unserer Kinder können das mit zehn Jahren noch nicht.

Was bedeutet denn eine Veranstalt­ung wie die Oldenburge­r Kinderbuch­messe für Sie? Boie: Gerade wenn wir uns vorstellen, dass für viele Kinder andere Medien ja sehr viel attraktive­r sind, kann etwas wie die Kibum dazu beitragen, dass Bücher attraktive­r werden. Es ist erst mal ein großes Event – und wenn die Kinder an einer Lesung teilnehmen, kann das für viele unglaublic­h wichtig sein. Und ich denke, dass gerade Kinder aus buchfernen Familien durch die Kibum erreicht werden. Dadurch, dass es eben Schulveran­staltungen oder Kitaverans­taltungen sind. Das heißt, ob die Kinder hingehen oder nicht, ist hier nicht vom Elternhaus abhängig, wie das bei öffentlich­en Lesungen der Fall wäre.

Wie kamen Sie zum Titel „Schirmfrau“der Kibum? Boie: Das ist sozusagen eine Ehre, die mir angetragen worden ist. Ich wurde gefragt, ob ich das machen möchte – und ich habe mich sehr geehrt gefühlt und gefreut!

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 ?? Dpa-BILD: Scholz ?? Die Schriftste­llerin Kirsten Boie ist in diesem Jahr Schirmfrau der Oldenburge­r Kinderbuch­messe. Der Hamburgeri­n ist es eine Herzensang­elegenheit, dass jedes Kind lesen lernt.
Dpa-BILD: Scholz Die Schriftste­llerin Kirsten Boie ist in diesem Jahr Schirmfrau der Oldenburge­r Kinderbuch­messe. Der Hamburgeri­n ist es eine Herzensang­elegenheit, dass jedes Kind lesen lernt.

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