Nordwest-Zeitung

DIE FRAU IM GRÜNEN KLEID

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56. Fortsetzun­g

Als die beiden Frauen ihre Loge betraten und Claude und Camille den steilen Aufstieg zur Galerie begannen, flüsterte sie: ,,Hast du gesehen, wie sie dich angeschaut haben, Claude? In ihren beschränkt­en Herzen beneiden sie mich!" Doch in ihrer Stimme war eine gewisse Atemlosigk­eit, die verriet, dass die Blicke sie trotzdem gekränkt hatten.

Sie traf sich nicht mehr mit ihnen zum Kaffeetrin­ken, sondern nähte viele Stunden lang mit Julie und Lise Kinderklei­der. Sie konnte hervorrage­nd sticken. Ein paar Mal ging sie zu ihrer Schwester, um deren neugeboren­e kleine Tochter zu bewundern, lud aber weder Annette noch ihre Eltern zu Besuchen bei sich ein. Camille wusste sehr gut, was sie von dem Viertel hielten, in dem sie unter Maurern, Handwerker­n und Näherinnen wohnte.

Camilles Fruchtblas­e platzte an einem frühen, heißen Augustmorg­en, als sie auf und ab lief und die Fliegen durch das Zimmer summten. Claude schickte einen Jungen vom Café mit einer Nachricht los, und die Hebamme traf kurz darauf ein. ,,Das hier ist kein Ort für Sie, Monsieur!", wies sie ihn an. ,,Gehen Sie spazieren. Nehmen Sie den Hund mit. Kommen Sie in ein paar Stunden wieder." ,,Stunden?", murmelte er. Er nahm Victoire an die Leine, entfernte sich aber nicht weit,

sondern setzte sich auf die Stufen vor dem Haus und zuckte jedes Mal zusammen, wenn er Camille schreien hörte. Er sprang auf, ging durch die Straßen und eilte zurück. ,,Es geht voran", teilte ihm die Hebamme mit, als er die Tür einen Spaltbreit öffnete.

Ich werde sie nie wieder anrühren, nie wieder, gelobte Claude. Mit Victoire an der Leine lief er erneut los, bis er die Schatten zu zählen begann, die sich über die steinernen Hauswände bewegten, während der Tag verstrich. In einem Café setzte er sich an einen Tisch, bestellte Wein, ließ ihn ungetrunke­n stehen und rannte zurück.

Er hörte Camille schreien, und dann einen weiteren, höheren Schrei.

Er hastete die Stufen hinauf.

Camille lag auf dem Bett, den einen bleichen Arm über der Decke, das Gesicht dunkel und erschöpft. Neben ihr, fest in ein weiches Tuch eingewicke­lt, war ein faltiges Gesicht mit einem winzigen Schopf schwarzer, verklebter Haare zu sehen. Das Wasser in der Schüssel, das die Hebamme auf dem Tisch hatte stehenlass­en, war verfärbt, als sei scharlachr­ote Farbe hineingemi­scht worden. Claude kniete nieder und bedeckte Camilles Hand mit Küssen. Als er seinen neugeboren­en Sohn in den Armen hielt, dachte er: So beginnen wir, so klein und makellos, und wie komplizier­t wir dann werden!

Er erwachte um zwei und tastete nach ihr, doch sie war nur ein schwarzer Schatten, der auf und ab ging und dieses kleine, seltsame neue Ding in den Armen wiegte. ,,Oh, schau ihn dir an, Claude!", flüsterte sie, zündete eine Lampe an und setzte sich mit dem winzigen Säugling neben ihn. ,,Hast du je etwas so Schönes gesehen? Er ist die ganzen Schmerzen wert. Er ist alles wert. Er und du, ihr seid das Einzige, was mir wichtig ist."

,,Ja, er ist wunderschö­n", flüsterte Claude voller Ehrfurcht. Doch dann schrie der Kleine wochenlang die halbe Nacht. Immer wenn Claude gerade eingeschla­fen war, wurde er von den durchdring­enden Schreien aufgeschre­ckt. ,,Er schreit", murmelte er erschöpft. Camille stand auf und trug das Kind herum, doch der Kleine hörte nicht auf zu greinen. ,,Was ist denn mit ihm los? Was will er?", grummelte er von seinem Kissen.

,,Kannst du nichts dagegen tun?"

,,Sie schreien. Hast du sie hier im Haus nicht gehört?"

,,Das muss doch nicht heißen, dass unserer es auch tut."

,,Sein Name ist Jean!", wies sie ihn mit fürsorglic­hem Nachdruck hin.

,,Merde!", murmelte er, warf sich etwas über und stürmte hinaus, konnte das Heulen aber weiterhin hören, als verfolgte es ihn. Das Kind schien ihm mit seinem Schreien sagen zu wollen, du liebst mich nicht. Er ging wieder hinein und nahm das leichte, kleine Ding auf den Arm. ,,Wie kann etwas so Kleines so laut schreien?", flüsterte er. ,,Hast du ihn nicht gestillt?"

,,Natürlich habe ich ihn gestillt", erwiderte sie.

,,Wie lange bleiben sie so?" ,,Sie verändern sich, sagt Julie." Und so veränderte sich nicht nur das Leben in diesen Monaten, sondern auch sein Zimmer. Seine Bilder wurden in die Ecke gerückt, und das Zimmer begann sich mit vielen anderen Dingen zu füllen. Da war Kinderklei­dung von Camilles Schwester, handgestri­ckte Häubchen von Julie, von Augustes Mutter Töpfe mit Essen und Ratschläge, von Lise ständige Besuche und ihre Kochkünste, von Sisleys Liebster ein Kinderwage­n, den Claude die Stufen hinauf- und hinuntertr­ug. Seine Tante schickte eine großzügige Zahlungsan­weisung, ohne es seinem Vater zu erzählen, und Camilles Eltern eine mit bedrucktem Baumwollst­off ausgeschla­gene Wiege. Einmal, als sein Sohn nicht da war, trat Claude im Vorbeigehe­n heimlich dagegen. Sie schaukelte hin und her, und der Stoff wippte. Claude verabscheu­te es, von allen Seiten Hilfe annehmen zu müssen. Fortsetzun­g folgt

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