Sensible Poesie hinter der strengen Form
Nobelpreis an Lyrikerin Louise Glück überrascht – Eigene Lebensnot mit Sprache überwunden
Frankfurt/Main – Louise Glück gilt als eine sehr gebildete Autorin. Ihre Kenntnisse der griechischen Mythologien sind ausgezeichnet, wie sie vielfach unter Beweis gestellt hat. Als am 11. September 2001 das World Trade Center zusammenbrach, reagierte die Lyrikerin mit dem Gedichtband „Oktober“, der voller Bezüge zur Antike ist. Der Titel sollte auf die Zeit nach dem September hinweisen, wenn der Staub sich gelegt hat und das Gedenken an die Opfer beginnt. Am Donnerstag wurde der 77-jährigen USAmerikanerin in Stockholm der diesjährige Nobelpreis für Literatur zuerkannt.
In dem Band „Oktober“beschwor Glück die antike Mythologie mit ihren Ritualen von Trauer und Leid herauf, in der Hoffnung, durch diesen historischen Rückgriff das nationale Trauma fühlbar und damit weniger kriegerisch und destruktiv zu machen.
Therapeutische Funktion
Der Kritiker Mark Strand schrieb damals: „In der Jahreszeit des Herbstes, der dunklen Zeit, geschrieben, ist Louise Glücks Stimme stärker, direkter, noch emotionaler aufgeladen als je zuvor. Dieses Poem ist ein Meisterwerk, gerade
weil es voller Schönheit steckt, aber diese nie mit Erlösung verwechselt.“
Diese fast therapeutische Funktion von Poesie begleitet den Lebensweg der 1943 in New York geborenen Louise Glück. Bereits als Jugendliche hatte sie mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen. Sie litt an starker Anorexie und begab sich in psychologische Behandlung, jedoch ohne großen Erfolg.
Existenzielle Krise
Sie zweifelte sogar daran, ob ihr unter diesen Bedingungen ein Studium möglich sein würde. Die gesundheitliche Krise wurde existenziell und
sie bekannte: „Ich verstand auf einmal, dass ich dabei war zu sterben. Aber ich war mir sicher, auf intensive körperliche Art, dass ich nicht sterben wollte.“
Jahre später dachte sie über den Scheideweg ihres Lebens nach: „Meine ganze emotionale Grundausstattung, die extreme Starrheit und Festigkeit, mit der ich mein alltägliches Verhalten regelte, auch meine seltsame, verrückte Abhängigkeit von Ritualen, machten alle anderen Formen der Erziehung nahezu unmöglich.“
Studium abgebrochen
Sie brach ihr Studium ohne Abschluss ab und arbeitete Ende
der Sechzigerjahre als Sekretärin, um Geld zu verdienen. Aber die Literatur hatte sie längst in den Bann gezogen, vor allem die Verbindung von griechischer Kultur und Lyrik – denn in beidem fand sie wieder, was sie unbedingt brauchte: eine strenge Form, Rituale, eine therapeutische
Arbeit an sich selbst. Und vielleicht ist es kein Zufall, das Louise Glück den Nobelpreis in einem Jahr bekommt, in dem eine schwere Pandemie herrscht, und ihr Land, die Vereinigten Staaten von Amerika, der therapeutischen Funktion von Literatur dringend bedarf.