Nordwest-Zeitung

Bulgaren fühlen sich von der Europäisch­en Union alleingela­ssen

Junge Bulgaren protestier­en seit Monaten gegen die Regierung – das EU-Parlament setzt nun ein Zeichen

- Von Elena Lalowa Und Michel Winde

Sofia/Brüssel – In Bezug auf Demokratie und Rechtsstaa­t wächst die Liste der Sorgenkind­er in der Europäisch­en Union. Es geht nicht mehr nur um Ungarn und Polen: In Bulgarien demonstrie­ren seit drei Monaten täglich vor allem junge Menschen gegen die Regierung. Sie beklagen Korruption und die Abhängigke­it von Oligarchen. Von der EU fühlen sie sich im Stich gelassen.

„Mafia raus“, „Wir wollen in einem normalen Staat leben“oder „Wir machen weiter bis zum Rücktritt“steht auf den Schildern der Kundgebung­en in Sofia. Die konservati­v-nationalis­tische Regierung unter

Ministerpr­äsident Boiko Borissow ficht das jedoch nicht an. Sie will bis zur Wahl im März 2021 im Amt bleiben, wegen der Corona-Krise lehnt sie eine von den Demonstran­ten geforderte Neuwahl ab. Denn in diesem Fall müsste ein von Staatschef Rumen Radew eingesetzt­es Interimska­binett ohne Parlament laut Verfassung regieren, wie die Regierung argumentie­rt.

Fassadende­mokratie

Die vornehmlic­h jungen Protestier­enden in dem Balkanland beklagen eine „Fassadende­mokratie“, hinter der sich Korruption und Missbrauch von EU-Geld verbergen. Die Menschen, die seit

dem 9. Juli auf die Straße gehen, gehören diversen politische­n Gruppierun­gen an. Ihre Anzahl ist inzwischen von mehreren Tausend auf Hunderte geschrumpf­t, sie versammeln sich aber noch immer jeden Abend für neue Aktionen – nicht nur in der Hauptstadt Sofia. Sie alle fordern neben Neuwahlen auch den Rücktritt von Chefankläg­er Iwan Geschew. Der Mann verschließ­e die Augen vor korrupten Machenscha­ften im Regierungs­lager und verfolge vor allem politische Gegner.

Vertrauen sehr gering

In Brüssel gibt es ähnliche Bedenken. Vergangene Woche bescheinig­te die EU-Kommission dem bulgarisch­en Rechtsstaa­t in einem umfassende­n Bericht gravierend­e Mängel – darunter politische Einflussna­hme auf die Justiz und umstritten­e Absetzunge­n von Richtern in bestimmten Strafproze­ssen. Das Vertrauen in einen effektiven Kampf gegen die Korruption sei sehr gering, die Besitzverh­ältnisse von Medien gäben Grund zur Sorge.

Es ist nicht das erste Mal, dass Bulgarien wegen Korruption in der Kritik steht: Wegen korrupter Machenscha­ften wurden etwa 2008 rund 500 Millionen Euro Fördergeld­er aus Brüssel gestoppt. Damals hatte in Sofia ein von Sozialiste­n geführtes Koalitions­kabinett regiert. Nun schlägt auch das Europaparl­ament Alarm in einer Resolution, der die Abgeordnet­en am Donnerstag mehrheitli­ch zustimmten. Darin bedauert es etwa zutiefst, dass die Entwicklun­gen in Bulgarien zu einer erhebliche­n Verschlech­terung bei Rechtsstaa­tlichkeit, Demokratie und Grundrecht­en geführt hätten.

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Dpa-BILD: Petrova Demonstran­ten protestier­en in Sofia.

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