Bulgaren fühlen sich von der Europäischen Union alleingelassen
Junge Bulgaren protestieren seit Monaten gegen die Regierung – das EU-Parlament setzt nun ein Zeichen
Sofia/Brüssel – In Bezug auf Demokratie und Rechtsstaat wächst die Liste der Sorgenkinder in der Europäischen Union. Es geht nicht mehr nur um Ungarn und Polen: In Bulgarien demonstrieren seit drei Monaten täglich vor allem junge Menschen gegen die Regierung. Sie beklagen Korruption und die Abhängigkeit von Oligarchen. Von der EU fühlen sie sich im Stich gelassen.
„Mafia raus“, „Wir wollen in einem normalen Staat leben“oder „Wir machen weiter bis zum Rücktritt“steht auf den Schildern der Kundgebungen in Sofia. Die konservativ-nationalistische Regierung unter
Ministerpräsident Boiko Borissow ficht das jedoch nicht an. Sie will bis zur Wahl im März 2021 im Amt bleiben, wegen der Corona-Krise lehnt sie eine von den Demonstranten geforderte Neuwahl ab. Denn in diesem Fall müsste ein von Staatschef Rumen Radew eingesetztes Interimskabinett ohne Parlament laut Verfassung regieren, wie die Regierung argumentiert.
Fassadendemokratie
Die vornehmlich jungen Protestierenden in dem Balkanland beklagen eine „Fassadendemokratie“, hinter der sich Korruption und Missbrauch von EU-Geld verbergen. Die Menschen, die seit
dem 9. Juli auf die Straße gehen, gehören diversen politischen Gruppierungen an. Ihre Anzahl ist inzwischen von mehreren Tausend auf Hunderte geschrumpft, sie versammeln sich aber noch immer jeden Abend für neue Aktionen – nicht nur in der Hauptstadt Sofia. Sie alle fordern neben Neuwahlen auch den Rücktritt von Chefankläger Iwan Geschew. Der Mann verschließe die Augen vor korrupten Machenschaften im Regierungslager und verfolge vor allem politische Gegner.
Vertrauen sehr gering
In Brüssel gibt es ähnliche Bedenken. Vergangene Woche bescheinigte die EU-Kommission dem bulgarischen Rechtsstaat in einem umfassenden Bericht gravierende Mängel – darunter politische Einflussnahme auf die Justiz und umstrittene Absetzungen von Richtern in bestimmten Strafprozessen. Das Vertrauen in einen effektiven Kampf gegen die Korruption sei sehr gering, die Besitzverhältnisse von Medien gäben Grund zur Sorge.
Es ist nicht das erste Mal, dass Bulgarien wegen Korruption in der Kritik steht: Wegen korrupter Machenschaften wurden etwa 2008 rund 500 Millionen Euro Fördergelder aus Brüssel gestoppt. Damals hatte in Sofia ein von Sozialisten geführtes Koalitionskabinett regiert. Nun schlägt auch das Europaparlament Alarm in einer Resolution, der die Abgeordneten am Donnerstag mehrheitlich zustimmten. Darin bedauert es etwa zutiefst, dass die Entwicklungen in Bulgarien zu einer erheblichen Verschlechterung bei Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Grundrechten geführt hätten.