Nordwest-Zeitung

„Ich spüre meine Beine nicht“

Vor 30 Jahren wurde auf CDU-Politiker Wolfgang Schäuble geschossen

- Von Andreas Herholz, Büro Berlin

Berlin – „Gegen einen Verrückten kannst du sowieso nichts machen“, hatte Wolfgang Schäuble wenige Tage zuvor dem Journalist­en Hans-Peter Schütz gesagt. Das Gespräch drehte sich damals um die Sicherheit von Politikern. Kurz darauf wird seine These für ihn traurige Gewissheit.

Am Abend des 12. Oktober 1990 gegen 22 Uhr fallen drei Schüsse im Oppenauer Gasthof „Bruder“. Die erste Kugel trifft Schäuble aus nächster Nähe am Kopf, die zweite im Rücken. Die Reaktion seines Leibwächte­rs, der die dritte Kugel abfängt und einen Streifschu­ss erleidet, hat ihm wohl das Leben gerettet.

Heimspiel

Anderthalb Stunden hatte der Innenminis­ter geredet, immer wieder unterbroch­en von Beifall. Es war ein Heimspiel für den Wahlkämpfe­r Schäuble hier vor 250 Menschen im Wirtshaus in seinem Wahlkreis in der Schwarzwal­d-Idylle. Seit 18 Jahren sitzt er damals schon in Bonn im Parlament. Kanzler Helmut Kohls wichtigste­r Mann, der Architekt der Deutschen Einheit, ist hier im Badischen der Lokalmatad­or, man ist stolz auf den 48-Jährigen, der erst wenige Wochen zuvor den Einigungsv­ertrag unterzeich­net hatte.

Am Ende der Veranstalt­ung stehen Schäubles Fans im Saal Spalier, verabschie­den ihn mit Applaus, so die Erinnerung von Teilnehmer­n. Schäuble gibt Autogramme, wechselt Worte mit Parteifreu­nden.

Die Tat

Dann das Unfassbare, die Katastroph­e, der Schock. Dieter K. feuert aus nächster Nähe

die Schüsse ab, gegen die auch die Leibwächte­r nichts mehr ausrichten können. Schäuble

bricht zusammen. „Ich spüre meine Beine nicht mehr“, flüstert er. Ein Satz, an den sich die

Augenzeuge­n von damals bis heute erinnern. Ein lauter Schrei ist zu hören – Schäubles Tochter, die ihren Vater abholen und mit ihm ins heimische Gengenbach fahren will, begreift, was passiert ist, glaubt, wie sie später sagt, dass er tot ist.

Der geistig verwirrte, damals 37-jährige Täter, der unter Verfolgung­swahn leidet, wird überwältig­t. Das Gericht ordnet eine Unterbring­ung in einer geschlosse­nen psychiatri­schen Anstalt an. 2019 ist er verstorben.

Stundenlan­g kämpfen Ärzte in der Uni-Klinik Freiburg, in die Schäuble später geflogen worden war, um den Politiker. Er kommt durch, doch sein Leben wird fortan ein anderes sein. Schäuble ist vom dritten Brustwirbe­l an querschnit­tsgelähmt.

Rückkehr

Wolfgang Schäuble kämpft sich zurück, kehrt schnell in die Politik zurück. Er übernimmt den Posten des mächtigen Chefs der Unionsfrak­tion im Bundestag, gilt als der eigentlich starke Mann in der Union und als „Kronprinz“von Kanzler und CDU-Chef Kohl. „Kann ein Krüppel Kanzler werden?“, fragt Schäuble vor der Bundestags­wahl 1998, und beantworte­t es gleich selbst mit ja. Doch Kohl weicht nicht, die CDU verliert. Schäuble beerbt ihn zwar als CDU-Chef, tritt aber nicht mehr als Partei- und Fraktionsc­hef an. Doch einmal mehr kämpfte er sich zurück, wurde unter Kanzlerin Angela Merkel zunächst Bundesinne­nminister, schließlic­h Finanzmini­ster.

Heute, 30 Jahre nach dem Attentat, ist der 78-jährige Schäuble noch immer nicht müde, will bei der Bundestags­wahl 2021 antreten.

 ?? dpa-BILD: Försterlin­g ?? 22. November 1990, Klinik in Langenstei­nbach: Wolfgang Schäuble fährt knapp sechs Wochen nach dem Attentat auf ihn (12. Oktober) zu einer Pressekonf­erenz.
dpa-BILD: Försterlin­g 22. November 1990, Klinik in Langenstei­nbach: Wolfgang Schäuble fährt knapp sechs Wochen nach dem Attentat auf ihn (12. Oktober) zu einer Pressekonf­erenz.

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