„Ich spüre meine Beine nicht“
Vor 30 Jahren wurde auf CDU-Politiker Wolfgang Schäuble geschossen
Berlin – „Gegen einen Verrückten kannst du sowieso nichts machen“, hatte Wolfgang Schäuble wenige Tage zuvor dem Journalisten Hans-Peter Schütz gesagt. Das Gespräch drehte sich damals um die Sicherheit von Politikern. Kurz darauf wird seine These für ihn traurige Gewissheit.
Am Abend des 12. Oktober 1990 gegen 22 Uhr fallen drei Schüsse im Oppenauer Gasthof „Bruder“. Die erste Kugel trifft Schäuble aus nächster Nähe am Kopf, die zweite im Rücken. Die Reaktion seines Leibwächters, der die dritte Kugel abfängt und einen Streifschuss erleidet, hat ihm wohl das Leben gerettet.
Heimspiel
Anderthalb Stunden hatte der Innenminister geredet, immer wieder unterbrochen von Beifall. Es war ein Heimspiel für den Wahlkämpfer Schäuble hier vor 250 Menschen im Wirtshaus in seinem Wahlkreis in der Schwarzwald-Idylle. Seit 18 Jahren sitzt er damals schon in Bonn im Parlament. Kanzler Helmut Kohls wichtigster Mann, der Architekt der Deutschen Einheit, ist hier im Badischen der Lokalmatador, man ist stolz auf den 48-Jährigen, der erst wenige Wochen zuvor den Einigungsvertrag unterzeichnet hatte.
Am Ende der Veranstaltung stehen Schäubles Fans im Saal Spalier, verabschieden ihn mit Applaus, so die Erinnerung von Teilnehmern. Schäuble gibt Autogramme, wechselt Worte mit Parteifreunden.
Die Tat
Dann das Unfassbare, die Katastrophe, der Schock. Dieter K. feuert aus nächster Nähe
die Schüsse ab, gegen die auch die Leibwächter nichts mehr ausrichten können. Schäuble
bricht zusammen. „Ich spüre meine Beine nicht mehr“, flüstert er. Ein Satz, an den sich die
Augenzeugen von damals bis heute erinnern. Ein lauter Schrei ist zu hören – Schäubles Tochter, die ihren Vater abholen und mit ihm ins heimische Gengenbach fahren will, begreift, was passiert ist, glaubt, wie sie später sagt, dass er tot ist.
Der geistig verwirrte, damals 37-jährige Täter, der unter Verfolgungswahn leidet, wird überwältigt. Das Gericht ordnet eine Unterbringung in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt an. 2019 ist er verstorben.
Stundenlang kämpfen Ärzte in der Uni-Klinik Freiburg, in die Schäuble später geflogen worden war, um den Politiker. Er kommt durch, doch sein Leben wird fortan ein anderes sein. Schäuble ist vom dritten Brustwirbel an querschnittsgelähmt.
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Rückkehr
Wolfgang Schäuble kämpft sich zurück, kehrt schnell in die Politik zurück. Er übernimmt den Posten des mächtigen Chefs der Unionsfraktion im Bundestag, gilt als der eigentlich starke Mann in der Union und als „Kronprinz“von Kanzler und CDU-Chef Kohl. „Kann ein Krüppel Kanzler werden?“, fragt Schäuble vor der Bundestagswahl 1998, und beantwortet es gleich selbst mit ja. Doch Kohl weicht nicht, die CDU verliert. Schäuble beerbt ihn zwar als CDU-Chef, tritt aber nicht mehr als Partei- und Fraktionschef an. Doch einmal mehr kämpfte er sich zurück, wurde unter Kanzlerin Angela Merkel zunächst Bundesinnenminister, schließlich Finanzminister.
Heute, 30 Jahre nach dem Attentat, ist der 78-jährige Schäuble noch immer nicht müde, will bei der Bundestagswahl 2021 antreten.