„Panik hilft uns auch nicht“
Das sagt Kassenarzt-Chef Gassen zu den Corona-Maßnahmen
Herr Gassen, die Corona-Infektionszahlen sind wieder auf mehr als 5000 pro Tag angestiegen. Wie ernst ist diese Entwicklung?
Gassen: Die Zahl der Neuinfektionen ist einer von vielen Werten. Wenn man die Zahlen heute mit denen aus dem Frühjahr vergleicht, muss man berücksichtigen, dass wir inzwischen dreimal so viele Tests durchführen. Wahrscheinlich lagen die echten Zahlen damals höher, weil wir möglicherweise eine hohe Dunkelziffer hatten. Es gibt Schätzungen, dass wir in der Hochphase bis zu mehreren Zehntausend Infektionen pro Tag hatten. Wir erleben jetzt seit einigen Wochen einen stetigen Anstieg. Es gibt bisher noch keinen starken Anstieg der Schwerkranken und der Todesfälle. Natürlich geben die Zahlen Anlass zur Sorge. Die Corona-Pandemie ist keine Bagatelle. Das darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Es besteht aber auch kein Grund zur Panik, das würde uns auch nicht helfen.
Wieder ein Corona-Gipfel der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten der Länder. Streit gibt es vor allem um das Beherbergungsverbot. Wie sinnvoll ist diese Regelung? Gassen: Das ist eine untaugliche Regelung. Der Grenzwert von 50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohnern in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt wird zunehmend gerissen. Die Zahl der Risikogebiete verändert sich ständig. Die Regelung war weder durchdacht noch zielführend. Kein Mensch versteht dieses Durcheinander. Da muss es Klarheit geben. Wenn jemand zum Beispiel aus dem Risikogebiet München nach Garmisch reisen darf, aber jemand aus einem Risikogebiet in Nordrhein-Westfalen nicht, dann kann man das niemandem mehr erklären. Dem Virus ist es ja egal, ob jemand aus Bayern oder NRW kommt.
Sie fürchten um die Akzeptanz der Corona-Beschränkungen?
Gassen: Ja, Das Beherbergungsverbot ist keine geeignete Maßnahme und niemandem zu erklären. Es besteht die Gefahr, dass auch sinnvolle Maßnahmen an Akzeptanz verlieren. Deshalb muss das Beherbergungsverbot revidiert werden.
Muss es weitere Verschärfungen der Regeln geben? Gassen: Es kommt jetzt darauf an, dass sich die Menschen vor allem an die geltenden Hygieneregeln halten. Wir erleben jetzt bereits, dass viele Gesundheitsämter nicht mehr in der Lage sind, QuarantänePflichten nachzuverfolgen, weil es an Personal fehlt. Die übergroße Mehrheit hält sich aber ohnehin an diese Quarantäne-Regeln, weil sie sie für sinnvoll hält. Der Appell an die eigene Verantwortung und die Verantwortung gegenüber den Mitmenschen ist sinnvoller als Zwänge, die eh nicht vollständig kontrolliert werden können und nichts bringen.
Viele Bundesländer pochen auf regionale Regelungen, weil das Infektionsgeschehen sehr unterschiedlich ist… Gassen: Der Grundsatz ist richtig, dass Regionen bestimmte Entscheidungen selbst treffen. Da muss es regionale Unterschiede geben. Wenn ich einen Hotspot in einer Stadt habe, muss ich anders damit umgehen, als wenn ich an der Ostseeküste keine Infektionen habe. Die bekannten Hygiene- und Abstandsregeln gelten bundesweit unverändert. Die sollte jeder beherzigen, um sich und andere zu schützen. Wenn man dicht an dicht steht, macht das Tragen einer wirksamen Maske Sinn.
Das Kanzleramt drängt auf ein bundeseinheitliches Vorgehen…
Gassen: Das muss kein Widerspruch sein. Wir brauchen beides. Die Verordnung zur Länge der Quarantäne etwa muss einheitlich sein. In den Regionen muss man zusätzlich zielgerichtet handeln. Das heißt die Anordnung der Quarantäne geschieht vor Ort nach Notwendigkeit.