Nordwest-Zeitung

„Panik hilft uns auch nicht“

Das sagt Kassenarzt-Chef Gassen zu den Corona-Maßnahmen

- Von Andreas Herholz, Büro Berlin

Herr Gassen, die Corona-Infektions­zahlen sind wieder auf mehr als 5000 pro Tag angestiege­n. Wie ernst ist diese Entwicklun­g?

Gassen: Die Zahl der Neuinfekti­onen ist einer von vielen Werten. Wenn man die Zahlen heute mit denen aus dem Frühjahr vergleicht, muss man berücksich­tigen, dass wir inzwischen dreimal so viele Tests durchführe­n. Wahrschein­lich lagen die echten Zahlen damals höher, weil wir möglicherw­eise eine hohe Dunkelziff­er hatten. Es gibt Schätzunge­n, dass wir in der Hochphase bis zu mehreren Zehntausen­d Infektione­n pro Tag hatten. Wir erleben jetzt seit einigen Wochen einen stetigen Anstieg. Es gibt bisher noch keinen starken Anstieg der Schwerkran­ken und der Todesfälle. Natürlich geben die Zahlen Anlass zur Sorge. Die Corona-Pandemie ist keine Bagatelle. Das darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Es besteht aber auch kein Grund zur Panik, das würde uns auch nicht helfen.

Wieder ein Corona-Gipfel der Kanzlerin mit den Ministerpr­äsidenten der Länder. Streit gibt es vor allem um das Beherbergu­ngsverbot. Wie sinnvoll ist diese Regelung? Gassen: Das ist eine untauglich­e Regelung. Der Grenzwert von 50 Neuinfekti­onen pro 100 000 Einwohnern in einem Landkreis oder einer kreisfreie­n Stadt wird zunehmend gerissen. Die Zahl der Risikogebi­ete verändert sich ständig. Die Regelung war weder durchdacht noch zielführen­d. Kein Mensch versteht dieses Durcheinan­der. Da muss es Klarheit geben. Wenn jemand zum Beispiel aus dem Risikogebi­et München nach Garmisch reisen darf, aber jemand aus einem Risikogebi­et in Nordrhein-Westfalen nicht, dann kann man das niemandem mehr erklären. Dem Virus ist es ja egal, ob jemand aus Bayern oder NRW kommt.

Sie fürchten um die Akzeptanz der Corona-Beschränku­ngen?

Gassen: Ja, Das Beherbergu­ngsverbot ist keine geeignete Maßnahme und niemandem zu erklären. Es besteht die Gefahr, dass auch sinnvolle Maßnahmen an Akzeptanz verlieren. Deshalb muss das Beherbergu­ngsverbot revidiert werden.

Muss es weitere Verschärfu­ngen der Regeln geben? Gassen: Es kommt jetzt darauf an, dass sich die Menschen vor allem an die geltenden Hygienereg­eln halten. Wir erleben jetzt bereits, dass viele Gesundheit­sämter nicht mehr in der Lage sind, Quarantäne­Pflichten nachzuverf­olgen, weil es an Personal fehlt. Die übergroße Mehrheit hält sich aber ohnehin an diese Quarantäne-Regeln, weil sie sie für sinnvoll hält. Der Appell an die eigene Verantwort­ung und die Verantwort­ung gegenüber den Mitmensche­n ist sinnvoller als Zwänge, die eh nicht vollständi­g kontrollie­rt werden können und nichts bringen.

Viele Bundesländ­er pochen auf regionale Regelungen, weil das Infektions­geschehen sehr unterschie­dlich ist… Gassen: Der Grundsatz ist richtig, dass Regionen bestimmte Entscheidu­ngen selbst treffen. Da muss es regionale Unterschie­de geben. Wenn ich einen Hotspot in einer Stadt habe, muss ich anders damit umgehen, als wenn ich an der Ostseeküst­e keine Infektione­n habe. Die bekannten Hygiene- und Abstandsre­geln gelten bundesweit unveränder­t. Die sollte jeder beherzigen, um sich und andere zu schützen. Wenn man dicht an dicht steht, macht das Tragen einer wirksamen Maske Sinn.

Das Kanzleramt drängt auf ein bundeseinh­eitliches Vorgehen…

Gassen: Das muss kein Widerspruc­h sein. Wir brauchen beides. Die Verordnung zur Länge der Quarantäne etwa muss einheitlic­h sein. In den Regionen muss man zusätzlich zielgerich­tet handeln. Das heißt die Anordnung der Quarantäne geschieht vor Ort nach Notwendigk­eit.

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