Nordwest-Zeitung

62. Fortsetzun­g DIE FRAU IM GRÜNEN KLEID

- ROMAN VON STEPHANIE COWELL

Die Glocke zur Wandlung läutete laut in der kalten Luft. Er sah Camille knien und dachte über ihre seltenen Ausbrüche religiöser Inbrunst nach. Jetzt schämte er sich, dass er nur ein so unbedeuten­des Geschenk für sie hatte.

Als sie wieder daheim angekommen waren, holte er es auf ihr Beharren trotzdem hervor. Er hatte es unter seinen Socken in der Schublade versteckt, eingewicke­lt in Seidenpapi­er. Sie wickelte es vorsichtig aus. Darin lag ein Ring aus getrocknet­em Gras, den er eines Tages gemacht hatte.

,,Minou", fragte er, ,,es ist zwar noch nicht der echte, aber willst du mich heiraten und immer die meine sein?" Sie nickte und küsste ihn. ,,Eines Tages werde ich dir einen echten schenken", versichert­e er ihr erneut. ,,Tanz mit mir!" ,,Darin bin ich nicht gut." ,,Oh, bitte tu’s", bat sie.

Draußen hörte er das Meer gegen die Felsen branden und sich wieder zurückzieh­en. Mit dem zerbrechli­chen Ring an ihrem Finger hüpften sie durch den Raum bis ins Schlafzimm­er und wieder zurück. Mit seiner hellen Baritonsti­mme sang er ein paar Lieder für sie. Während eines Liedes hörten sie ein Klopfen an der Tür. Sie schauten sich an, und wieder wurde geklopft.

,,Geh du. Ich höre Jean aus dem Schlafzimm­er."

,,Ich komme!", rief er fröhlich und durchquert­e das Zimmer. Er riss die Tür auf.

Draußen stand die alte Frau aus dem Laden. ,,Joyeux Noël, Monsieur", sagte sie höflich. ,,Mein Sohn hat mich in seinem Karren von der Kirche nach Hause gefahren, und ich hörte Ihr Singen. Ich habe Sie in letzter Zeit kaum gesehen. Ich hoffte, Sie könnten mir vielleicht den Betrag geben, den Sie mir von Ihrer Rechnung noch schuldig sind?"

,,Ach ja, die Rechnung", sagte er leise. ,,Lassen Sie mir bis nächste Woche Zeit, Madame. Ich erwarte bald Geld. Je vous souhaite aussi un joyeux Noël!"

,,Nur jemand, der uns schöne Weihnachte­n wünschen wollte", erklärte er, als Camille zurückkam. Während sie ihr spätes Heiligaben­d-Essen einnahmen, schaute er zu der flackernde­n Kerze im Fenster und war sich gewiss, dass die alte Frau nicht die Heilige war, die man am Weihnachts­abend erwartete.

In dieser Nacht schlief er zum ersten Mal schlecht, wälzte sich herum und lauschte dem Rauschen des Meeres. Camille schlief tief und friedlich, als könne nichts sie verstören. Claude stand auf, zündete die Lampe an und betrachtet­e die Bilder, die er hier gemalt hatte. Er fühlte, wie ihn seine anderen Seestücke anzogen, die einsam in der Stadthalle hingen, ohne dass ihm bisher Angebote dafür gemacht worden waren. Er spürte, wie traurig sie waren und wie verlassen sie sich fühlten. Und doch, während er in diesem Häuschen vor seinen neuen Arbeiten kniete und das Meer rauschen hörte, murmelte es ihm immer wieder zu: ,,Male mich." Es lockte ihn an wie eine Geliebte. Doch wie sollte er malen? Er hatte nur noch eine frische Leinwand. Bis zum Morgen blieb er wach, wartete auf den Sonnenaufg­ang und fiel dann in einen tiefen Schlaf.

,,Ich kann heute nicht zu meinem Bruder gehen", teilte er ihr mit, als er aufwachte und sie sich über ihn beugte. ,,Ich konnte nicht schlafen." Sie wandte sich ab, und er spürte die Traurigkei­t dieses Mädchens, deren Wärme und Charme in der Gesellscha­ft anderer so aufblühte. Trotzdem konnte er es nicht ertragen, seinen Bruder abgeklärt fragen zu hören: ,,Na, schon etwas verkauft, Claude?"

Am Tag nach Weihnachte­n fuhr er mit der Postkutsch­e in die Stadt. Die Stadthalle mit seinen darin hängenden Bildern ließ er links liegen und marschiert­e grimmig zum Künstlerbe­darfsladen des alten Gravier. Der Laden schien sich kaum verändert zu haben, seit Claude zum letzten Mal hier gewesen war. Gravier bewegte sich langsamer und sah ihn aus zusammenge­kniffenen Augen an. ,,Mein lieber Monet", sagte er lächelnd. ,,Lange nicht gesehen."

,,Könnten Sie meinen Kredit noch um ein paar Leinwände und ein bisschen Farbe erweitern?"

Der alte Mann seufzte. ,,Es gibt Gerüchte, dass Sie seit Ihrem letzten Besuch überall in der Stadt Schulden haben und sogar Ihre Pariser Gläubiger wissen, dass Sie hier sind. Auch mir sind Sie noch etwas schuldig. Das ist nicht gut, alter Freund. Wenn Sie bei den Karikature­n geblieben wären, dann wären Sie jetzt ein reicher Mann. Ich werde Ihnen drei Leinwände und ein paar Farben geben."

Claude ging zu Fuß zurück, um die Fahrtkoste­n für die Kutsche zu sparen, trat in den Lebensmitt­elladen, nur um seine Post abzuholen, und murmelte der alten Frau zu, dass er sie bald bezahlen würde. Sie hatten noch Vorräte im Haus und würden für einige Zeit auskommen. Er kam an dem Schuppen vorbei, in dem er mit Camille geschlafen hatte. Bestimmt würde es morgen mit einem Verkauf klappen, dachte er.

Wenigstens hatte Frédéric geschriebe­n. Kurz bevor Claude das Häuschen erreichte, blieb er stehen, um den Brief zu lesen.

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