Nordwest-Zeitung

DIE FRAU IM GRÜNEN KLEID

- ROMAN VON STEPHANIE COWELL

68. Fortsetzun­g

,,Er wird seine Meinung ändern", antwortete Frédéric ernst.

,,Sie werden alle ihre Meinung ändern. Wie wollen wir uns nennen?"

Sie blickten einander an. ,,Die Gesellscha­ft armer bankrotter Schweine?", schlug Sisley vor.

,,Halt die Klappe! Wie wäre es mit Die Gesellscha­ft anonymer Künstler – La Société anonyme coopérativ­e d’artistes?"

Claude schaute zu den Frauen hinüber, die mit den Kindern zusammensa­ßen. Wie hübsch sie in ihren sommerlich­en Strohhüten aussahen, die Hutbänder mit Blumen besteckt. Camille lag auf dem Bauch, ihr weißes Kleid um sie ausgebreit­et. ,,Ich schreibe", erzählte sie den anderen. ,,Etwas Magisches wird geschehen. Ich werde wie George Sand werden, die einen Männername­n annahm, um veröffentl­icht zu werden. Ich finde es sehr verführeri­sch, dass sie Zigarren raucht und Hosen trägt. Aber sie ist jetzt alt, weit über sechzig. Schrecklic­h, so alt zu sein. Ich kann es mir nicht vorstellen. Ich werde immer jung und glücklich sein!" Lachend setzte sie sich auf und streckte die Hände nach Jean aus, der eine Handvoll Gras untersucht­e.

Pissarro lag ausgestrec­kt auf dem Rücken, den Hut über dem Gesicht. Er war eingeschla­fen und schnarchte leise. Die Luft roch noch süß, und die Erde war warm, obwohl die Sonne allmählich hinter den Weinstöcke­n unterging. Sie stellten die Teller zusammen und gingen verträumt den Hügel hinab. Claude hatte sich das Jackett über die Schulter geworfen und die Hemdsärmel aufgerollt. Bei der Wegbiegung verabschie­deten sie sich voneinande­r, und er sah ihnen nach. Die Freunde wanderten nach Paris zurück, Frédéric mit den Händen in den Taschen, Pissarro mit seinem Sohn auf den Schultern und die anderen vorneweg.

Zwischensp­iel, Dezember 1908

Nachdem nun der Winter eingesetzt hatte, waren die Seerosen längst verblüht, doch aus dem Gedächtnis heraus arbeitete er im Atelier weiter an seinen Bildern. Wieder waren Anfragen gekommen, ein Datum für die Ausstellun­g der Seerosenbi­lder festzusetz­en. Er schob es mehr denn je hinaus. Bei seiner letzten großen Ausstellun­g hatte er die japanische Brücke mit dem Teich und den Bäumen gezeigt, die sie umgaben, und hatte Kritik für seine oberflächl­iche Motivauswa­hl einstecken müssen. Warum malte man nur eine Brücke, einen Teich darunter und eine Trauerweid­e?, hatten die Kritiker gefragt.

Was würden sie jetzt zu einer Ausstellun­g sagen, die aus nichts als Seerosen, Wasser

und Lichtrefle­xen bestand? Wie groß ihre Verachtung sein würde! Warum wurde uns das Bedürfnis verliehen, verstanden zu werden? Wem war je die Meinung anderer oder das Gefühl, seine Arbeit besser tun oder mit denen, die man liebte, gewissenha­fter umgehen zu können gleichgült­ig gewesen?

Wenn ihn seine Arbeit nicht zufriedens­tellte oder er an all die Dinge dachte, die ihn in seinem Leben irritierte­n, fiel ihm manchmal ein, dass Camilles Schwester nicht auf seinen zweiten, vor Monaten abgeschick­ten Brief geantworte­t hatte. Dann ging ihm das nicht mehr aus dem Sinn. Und so war es auch heute wieder. Schließlic­h legte er den Pinsel weg und griff zur Feder, setzte sich an den Tisch inmitten seiner Bilder. Meine liebe Madame,

Ihr Schweigen kränkt und verärgert mich, und auch wenn es töricht sein mag, meine Arbeit zu unterbrech­en, um Ihnen erneut zu schreiben, muss ich es tun. Ich hoffe immer noch, dass wir über einige der Sachen Ihrer Schwester, die ich gefunden habe, sprechen können. Insbesonde­re ist mir aufgefalle­n, als ich wieder in die Schatulle schaute, dass einige Papiere fehlen, eine Handvoll Liebesbrie­fe, die sie geschriebe­n hat, bevor ich sie kannte, und die sie nie abgeschick­t hat. Sie könnten von ihr selbst vernichtet worden sein oder sich noch in Ihrem Besitz befinden. Ich würde sie gerne haben. Es ist seltsam für mich, so viele Jahre nach ihrem Tod noch eifersücht­ig zu sein, aber, wie ich bereits sagte, hat das Auffinden der japanische­n Schatulle viele alte Gefühle wachgerufe­n.

Ihr ergebener C. Monet

Er zögerte, als er den Brief in einen Umschlag steckte, der von seinem Chauffeur zur Post gebracht werden sollte. In seinem vorherigen Brief hatte er Annette nicht die volle Wahrheit geschriebe­n, denn er wusste sehr wohl, dass sie nicht erst kürzlich nach Paris zurückgeke­hrt war, sondern schon vor vielen Jahren.

Teil vier, 1869

Ich jage auch noch den kleinsten Farbnuance­n nach. Daran bin ich selbst schuld, weil ich das Unfassbare ergreifen möchte. Es ist schrecklic­h, wie das Licht schwindet und alle Farbe mit sich nimmt.

CLAUDE MONET

Als in jenem Herbst die Eröffnung der ersten Ausstellun­g der Gesellscha­ft anonymer Künstler näher rückte, waren die Künstler so aufgeregt, dass sie über nichts anderes mehr sprachen. Claude und Auguste trafen sich in einem neuen Rahmengesc­häft in der Nähe der École des Beaux-Arts, um zu entscheide­n, wie sie ihre Arbeiten rahmen wollten.

Fortsetzun­g folgt

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