Nordwest-Zeitung

DIE STUNDE UNSERER MÜTTER

- ROMAN VON KATJA MAYBACH

25. Fortsetzun­g ,,Was meinst du damit?“,,Sie war nur mit uns zusammen, sie ging nie allein aus.“

,,Vielleicht wollte sie das gar nicht. Sie war glücklich, bei euch zu sein, sie brauchte niemand anderen.“

,,Ich weiß nicht. Sie hat mir so viel Dankbarkei­t und Liebe entgegenge­bracht, das wurde für mich ganz selbstvers­tändlich. Aber ich frage mich, was ich hätte besser machen können, das lässt mich einfach nicht los“, setzte Maria nachdenkli­ch hinzu.

,,Ihr habt sie aufgenomme­n, das ist sehr viel“, betonte Vivien. Maria sprach weiter, ohne auf die Bemerkung ihrer Schwägerin einzugehen. ,,Ich hätte sie ermutigen sollen auszugehen. Sie war nie verliebt, sie kannte das Leben nicht.“Vivien blieb stehen.

,,Du sprichst über Nadja, als sei sie schon tot. Wenn du sie aufgegeben hast, dann brauchen wir jetzt nicht weiterzuge­hen.“

,,Du hast ja recht. Aber was wissen wir schon? Wir vermuten nur, dass diese Nachricht etwas mit Nadja zu tun hat. Wir laufen einfach drauflos, wissen nicht einmal, ob der Wehrturm gemeint ist oder ob uns jemand in eine Falle lockt.“

,,Das ist sehr unwahrsche­inlich“, erklärte Vivien. ,,Wieso sollte Fesl oder jemand anderes das tun?“

,,Ja, du hast recht. Aber vielleicht hätte ich Fesl noch mal fragen sollen.“

,,Du hast es nicht getan, und jetzt gehen wir weiter. Schluss.“Sie hatten den kleinen Wald erreicht und liefen zwischen den Bäumen hindurch, bis der hohe Stacheldra­htzaun zu sehen war.

,,Dort ist das erste Warnschild“, flüsterte Maria. ,,Es wird geschossen, wenn man sich nähert. Anna hat großes Glück gehabt.“Sie verstummte­n und gingen hintereina­nder am Zaun entlang, wahrten aber stets Abstand und bewegten sich nur im Schutz der Bäume.

Maria sah sich nach Vivien um, die ihr beruhigend zunickte. Als sie sich auf gleicher Höhe mit dem Wehrturm befanden, blieben sie stehen.

,,Der ist ziemlich weit weg“, flüsterte Maria.

,,Ist das der Einzige?“Auch Vivien sprach leise.

Maria sah sich um und zuckte mit den Schultern. ,,Ich denke schon.“

,,Dann bleiben wir hier, Maria. Wir haben noch Zeit, es ist erst halb.“

Sie blieben stehen und warteten. Warteten und wussten doch nicht, auf was. Sie sprachen nicht, sahen sich nur manchmal stumm an.

Nichts durchbrach die Stille des Nachmittag­s, nur irgendwann läuteten aus der Ferne Kirchenglo­cken.

Halb vier, viertel vor, zehn vor, vier Uhr.

Sie atmeten durch und starrten gebannt auf den Wehrturm, der sich in der Ferne neben den Baracken erhob.

,,Schau, da steht eine Frau.“Viviens Stimme war wieder kaum mehr als ein Flüstern. ,,Das ist sie, das ist Nadja.“

Maria vergaß jede Vorsicht, ging aus der Deckung der Bäume heraus, warf beide Arme in die Höhe und winkte. Vivien folgte ihr, sah sich dabei aber immer wieder um. Da hob auch die Frau beide Arme und winkte zurück. Dann verschwand sie, so plötzlich, wie sie aufgetauch­t war.

,,Das war doch Nadja, nicht wahr?“

,,Ja“, bekräftigt­e Vivien. ,,Ich denke auch, das war Nadja.“ Am nächsten Tag

Maria ging zu Fesl und legte einen Zettel auf die Theke. Darauf stand ein einziges Wort:

DANKE. Es war gerade leer in der Bäckerei, und Fesl lächelte, nickte ihr zu und bat sie in seine Backstube.

Als sie ein wenig später die Bäckerei verließ, war sie in Eile, hetzte nach Hause und suchte Vivien zunächst vergeblich im Garten. Dann fand sie ihre Schwägerin schließlic­h im Gästezimme­r vor ihrem Kleidersch­rank stehend. Auf dem Tisch lag der offene Koffer.

,,Was machst du da?“Maria erschrak, vom schnellen Laufen noch völlig außer Atem.

Mit einem Seufzen warf Vivien ihr Kostüm auf den vollen Koffer und setzte sich daneben auf den Tisch.

,,Ich will zurück zu Philip. Er leistet Widerstand gegen den Nationalso­zialismus, versteckt Juden in unserer Wohnung. Er riskiert, verhaftet und verhört zu werden. Du weißt schon, was man mit den Menschen macht? Sie werden geschlagen, gefoltert, viele überleben diese Verhöre überhaupt nicht. Philip hat Mut, er kämpft, er sagt, das gibt seinem Leben einen Sinn, er muss es einfach tun. Und was mache ich? Ich soll hier im Garten arbeiten und Holzböden einwachsen, anstatt an seiner Seite zu sein? Ich muss zurück.“

Maria schloss den Schrank und lehnte sich dagegen, während sich ihr Atem langsam beruhigte.

,,Du hilfst ihm dadurch, dass du weggegange­n bist“, erklärte sie ruhig. ,,Und das ist richtig so. Neulich“, fuhr sie fort, ,,habe ich dir gesagt, du sollst tun, was du tun musst. Heute sage ich das nicht mehr, denn ich brauche dich.“,,Wobei?“

,,Fesl hat mit mir gesprochen.“

,,Hast du ihn nach Nadja gefragt?“

,,Ja, natürlich. Sie war die Frau am Wehrturm. Fesl ließ durchblick­en, dass es Leute gibt, die solche ›Treffen‹ mit den Insassen des Lagers arrangiere­n.“

,,Hat er auch gesagt, wie das geht?“ Fortsetzun­g folgt

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