Nordwest-Zeitung

Frische Kolumnen braucht das Land

Vor 50 Jahren erschien ein Werk, das heute Antworten geben kann

- Alexander Will, Mitglied der Chefredakt­ion

Heute geht’s los: Mein sehr geschätzte­r Kollege Thomas Haselier beginnt mit seiner neuen NWZ-Kolumne. Alle 14 Tage immer am Mittwoch, im Wechsel mit unserem Autor Michael Sommer, heißt es „Gerade heraus“. Die Texte sind genau so wie der Titel: Offen, auf den Punkt, kontrovers und mit dem Finger in der Wunde, dabei unideologi­sch und elegant.

Zum Auftakt nimmt sich Haselier heute die Corona-Öffnungsfr­eunde vor. Geht’s da um „Freiheit statt Vernunft“? Ich muss gestehen: Bei mir steigt schon bei der Frage der Blutdruck. Aber entscheide­n Sie selbst: Hat Haselier recht? Ab jetzt jeden zweiten Mittwoch in Ihrer NWZ!

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Als John Rawls vor 50 Jahren sein Hauptwerk veröffentl­ichte, galt es als intellektu­elle Sensation: „Eine Theorie der Gerechtigk­eit“analysiert­e nicht nur die ethischnor­mativen Grundlagen moderner Gesellscha­ften, sie bot auch ein Instrument, das Gemeinwese­n zu gestalten. „Damit erhielt die politische Theorie – bislang ein akademisch­es Wolkenkuck­ucksheim – eine Bedeutung, die man nicht für möglich gehalten hätte“, sagt der Erfurter Politikpro­fessor Alexander Thumfart. Vor 100 Jahren, am 21. Februar 1921, wurde der Philosoph John Rawls in Baltimore (USA) geboren, er starb 2002.

Sein moralphilo­sophischer Ansatz fußt auf einem Gedankenex­periment: Welches Gesellscha­ftsmodell würden Menschen in einem Urzustand wählen, wenn sie nicht wüssten, welchen sozialen Rang sie selbst einnehmen und über welche Fähigkeite­n sie verfügen werden? Dieser „Schleier des Nichtwisse­ns“zwänge jeden Einzelnen, sich mit der Aussicht auseinande­rzusetzen, zu den Schwächste­n zu gehören. Er kommt er zu dem Schluss: Die Menschen würden sich darauf verständig­en, dass für jeden die gleichen Grundfreih­eiten gelten. Ungleichve­rteilung von Macht oder Einkommen würden sie billigen – unter der Bedingung, dass sie den Schwächste­n Vorteile bringen. Damit legitimier­t Rawls den Kapitalism­us, setzt ihm aber Grenzen.

Rawls Grundgedan­ken wirkten sich auf politische Programme aus. Thumfart hebt hervor, dass die Theorie des Harvard-Philosophe­n „sozialdemo­kratische Politik formuliert und angeleitet hat“.

Aus dieser Perspektiv­e lässt sich die vom damaligen Bundeskanz­ler Gerhard Schröder (SPD) forcierte Agenda 2010 mit ihren Hartz-Reformen als Abkehr von Rawls’ Gerechtigk­eitsdefini­tion begreifen: Die am schlechtes­ten Gestellten wurden durch die AgendaPoli­tik noch schlechter gestellt. Im Blick auf die CoronaPoli­tik stellt sich die Frage der Gerechtigk­eit mit neuer Dringlichk­eit, nicht nur in Bezug auf das Einkommen, sondern auch auf Lebenschan­cen.

John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigk­eit, Suhrkamp, 25 Euro.

Otfried Höffe: Gerechtigk­eit denken – John Rawls’ epochale politische Philosophi­e, Verlag Karl Alber, 2021, 28 Euro.

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