Die Unvernunft der Ignoranten
Deutschland ächzt unter den Lockdown-Folgen. Immer häufiger drängen sich Kritiker nach vorne, die Bundeskanzlerin Merkel und die Ministerpräsidenten als leichtfertig beim Umgang mit verfassungsmäßigen Grundrechten sehen. Die Freiheit des einzelnen und auch die der Gesamtheit sei in Gefahr, u. a. auch deshalb, weil das Parlament nicht rechtzeitig informiert und beteiligt worden sei, monierte im Februar etwa FDPChef Christian Lindner, der erstaunlicherweise bei jeder Gelegenheit von Journalisten zu allen möglichen Folgen der Corona-Pandemie gefragt wird. Außer phrasenhaften Hinweisen auf Verlust von Demokratie kam selten mehr dabei heraus als die Forderung nach einem Stufenplan für den Ausstieg aus dem Lockdown. Noch schlimmer sind Behauptungen, wonach sich Deutschland durch die CoronaMaßnahmen zur Diktatur entwickele. Ehrlich gesagt, es nervt langsam.
Die Streiter um mehr Freiheit sollten bei Wissenschaft und Forschung nachfragen. Einhellig und fast schon flehentlich haben die Virologen und Mediziner gefordert, die nicht nachvollziehbare Inzidenzgrenze von 50 deutlich nach unten zu korrigieren. Die meisten von ihnen halten auch die jetzt gültige Sieben-Tage-Inzidenz von 35 für immer noch viel zu hoch, um bei dieser Grenze Erleichterungen zuzulassen.
„Dieses Larifari des Hier ein bisschen Homeoffice, dort ein improvisiertes Hygienekonzept, das muss aufhören“, schimpfte vor ein paar Wochen die sonst eher bedächtige Virologin Melanie Brinkmann vom Helmholtz-Institut in Braunschweig. Gäbe die Politik der Forderung nach mehr Freiheit (und mehr Kontakten) nach, würde das mutierte Virus durch die jüngeren, bis dahin noch nicht geimpften Altersgruppen rauschen – „und das mit einer Wucht, die man sich gar nicht vorstellen kann.“
Das Virus laufe sich im Hintergrund gerade warm. Die Sieben-Tage-Inzidenz lasse sich nur mit einer „konsequent durchgesetzten Kontaktvermeidungsstrategie“zügig unter den Wert Zehn drücken, forderte sie. „Alles andere entspringt Wunschdenken, genährt von falschen Versprechungen einiger Politiker.“
Der von vielen im Oktober vergangenen Jahres gegen Merkels Rat beschlossene „Lockdown light“hat zu nichts anderem geführt, als die nächste Corona-Welle auszulösen. Es kommt nicht oft vor, dass Politiker falsche Entscheidungen zugeben. Baden-Württembergs Ministerpräsident Kretschmann räumte die Fehler beim Corona-Krisenmanagement ein. Der „Lockdown light“sei falsch gewesen, sagte er im Februar. Er hat Tausenden das Leben gekostet.
Auch der Stufenplan zum Ausstieg aus dem Lockdown, den viele gerne hätten, ist widersinnig, weil man eben nicht nach einem Stufenplan entscheiden kann, sondern nur aufgrund der aktuellen Infektionslage. Die Menschen leben nach wie vor mit einer akuten Ansteckungsgefahr vor allem durch die neuen Mutanten. Ihr kann man nicht mit dem Optimismus und der Ankündigung begegnen, der Trend stimme, es werde schon nicht so viel passieren. Deutschland hat noch ausreichend Intensivbetten zur Verfügung. Aber was heißt das schon? Die Statistik sagt eigentlich nur, dass fast 70000 Corona-Tote die Intensivstationen Richtung Friedhof verlassen haben. Und immer neue Infizierte nehmen ihre Plätze ein. Ärzte und Pfleger/innen arbeiten schon längst auf der letzten Rille. Und einsam gestorben wird weiter.
Doch die Sehnsucht nach Normalität wächst, die Spaßgesellschaft fordert ihren Tribut: Endlich Freiheit statt Vernunft.
Und viele Politiker stimmen ein in diesen Chor der Ignoranten. Sie müssen sich fragen lassen, wie viel Sterben erträglich ist, um ein paar Geschäfte mehr zu öffnen, wie viel Dauererkrankte akzeptabel, um dafür ein bisschen mehr „normales“Leben zu bekommen. In unserer Verfassung steht das Recht auf Leben an oberster Stelle. Die Corona-Pandemie zeigt, wie reif wir wirklich für die Demokratie und ihre Grundwerte sind.