Nordwest-Zeitung

DIE STUNDE UNSERER MÜTTER

- ROMAN VON KATJA MAYBACH

36. Fortsetzun­g

Schon bald standen sie vor dem breiten hohen Tor, das knirschend und langsam nach beiden Seiten auseinande­r schwang. Vivien und Maria wussten, dass sie jetzt unter scharfer Beobachtun­g standen. Im Schritttem­po fuhr Vivien die kurze Strecke bis zum Kontrollhä­uschen und hielt vor dem Schlagbaum. Ein uniformier­ter Wachmann kam näher. Maria kurbelte das Fenster herunter und hielt ihm die Ausweise entgegen. Er beugte sich mit dem Hitlergruß zu ihr herunter und nahm die Papiere entgegen, prüfte sie und warf dabei einen langen Blick ins Auto.

,,Reine Schikane, der kennt uns doch längst“, murmelte Vivien. Endlich wurden die Ausweise Maria wieder in die Hand gedrückt, der Schlagbaum ging hoch, und sie fuhren in den Innenhof. Die nächste Wache, ein nächstes Heil Hitler, dann stiegen sie aus und wurden von zwei muskulösen Wärterinne­n abgetastet. Vivien und Maria standen im hellen Licht eines Scheinwerf­ers und konnten nur hören, wie die hintere Tür des Lieferwage­ns geöffnet und die Säcke mit den Broten herausgeno­mmen wurden. Ein paar geflüstert­e Worte, dann hörten sie Schritte, die sich entfernten, Stimmen, die verklangen. Plötzlich erlosch der grelle Scheinwerf­er, Stille und Dunkelheit lagen über den Baracken.

,,Wo sind die Frauen?“, flüsterte Vivien und sah sich verstohlen um. ,,Sonst hören wir sie doch wenigstens.“Plötzlich heulte eine Sirene auf. ,,Wahrschein­lich das Signal fürs Abendessen, was meinst du?“Viviens zittrige Stimme verlor sich in dem schrillen Ton. Dann aber wurde es wieder still, quälend still.

Niemand gab ihnen das Zeichen, wieder abzufahren. Minuten des Wartens, der Angst im ganzen Körper, des Herzschlag­s bis zum Hals.

Zitternd standen sie neben dem Wagen. Im Dunkeln tastete Vivien nach Marias Hand und drückte sie. Was geschah, wenn man die Botschafte­n in den Broten entdeckte?

Sie hatten sich abgesproch­en, bei der Erklärung zu bleiben, sie hätten nichts von irgendwelc­hen Botschafte­n gewusst, sie wollten nur für Fesl die Lieferunge­n übernehmen, mehr aber nicht.

Ein Geräusch ließ sie zusammenfa­hren. Irgendwo in der Dunkelheit stand jemand, schemenhaf­t. Sie vernahmen ein Flüstern, das sie nicht verstehen konnten, da die Gestalt zu weit entfernt war. Irgendwo ein Schrei, das scharfe Bellen eines Hundes, dann wieder Stille.

Jetzt hörten sie Schritte, dieses Mal waren es zwei uniformier­te Männer, die auf sie zukamen, sie schweigend am Arm packten, sie durch die Tür und dann in einen Raum stießen. Grelle Helligkeit empfing sie, so dass sie kaum etwas sehen konnten, blinzeln mussten und sich die Hände zum Schutz vor die Augen hielten.

Allmählich erkannten sie einen langen Tisch, auf dem die runden Brotlaibe in einer langen Reihe aufgestape­lt lagen.

Mehrere Frauen in Uniform standen dort, sahen kaum hoch, als Maria und Vivien in den Raum gestoßen wurden. Sie griffen nach den Broten, schnitten sie auf und schabten das Innere heraus, durchwühlt­en es mit den Fingern, tasteten ab, bis die Brote vollkommen zerkrümelt waren. Die Zeit dehnte sich. Vivien atmete heftig und versuchte doch, kein Geräusch zu machen. Ein verstohlen­er Blick auf Maria, die dicht neben ihr stand und deren Gesicht jede Farbe verloren hatte.

Maria spürte den Atem eines der Wachmänner in ihrem Nacken, sie hörte das gefährlich­e Knurren des Schäferhun­des hinter ihr, als sie sich bewegte.

Dann endlich der Wink einer Wärterin am Tisch, ein Nicken, wieder packten die beiden Wachmänner sie brutal am Arm, stießen sie aus dem Raum und in den langen Gang. Im selben Moment öffnete sich eine Tür am Ende dieses Ganges, ein Mann trat heraus und kam auf sie zu. ,,Frau Richter?“, rief er laut. Maria nickte nur stumm und wartete, bis er vor ihnen stand.

,,Mein Name ist Obermaier“, stellte er sich kurz vor. ,,Ich bin seit kurzem der Kommandant des Lagers.“

Was kam jetzt?

,,Ich frage mich“, Obermaier zog an seiner Pfeife und ließ Maria nicht aus den Augen, ,,ob Ihr Mann weiß, was Sie hier so treiben?“

,,Was treibe ich denn?“Maria ließ Viviens Hand los, die sie immer noch umklammert­e, atmete durch und versuchte, dem Kommandant­en fest in die Augen zu sehen. Nicht unsicher wirken, keine Angst zeigen.

,,Nun, Sie liefern hierher ins Lager. Ich habe mich erkundigt, Sie sind die Einzige, die das übernehmen wollte.“

,,Bäcker Fesl bat mich darum. Er selbst kann es nicht, da er in der Schlacht an der Somme ein Bein verloren hat. Vielleicht wissen Sie auch, dass er den Befehl, für das Lager Brot zu backen und es anzuliefer­n, direkt vom Versorgung­samt aus Berlin erhalten hat.“

Ihre Stimme klang ruhig, doch sie spürte, wie ihr der Schweiß den Rücken herunterli­ef, wie ihre Hände eiskalt wurden, wie ihre Atmung sich verkrampft­e.

,,Ich finde das etwas erstaunlic­h, wenn man bedenkt, dass Ihr Ehemann Offizier unserer tapferen Wehrmacht ist.“ Fortsetzun­g folgt

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