Walter Kempowski: Heile Welt (1998)
Im Frühjahr 1961 taucht in einem ebenso idyllischen wie verschnarchten Heidedorf in norddeutscher Provinz ein junger Mann auf und übernimmt dort die vakante Stelle des Zwergschullehrers. Der Fremde kommt aus der DDR, wo er eine Haftstrafe verbüßt hat, und ist nun im Westen auf der Suche nach einem Neuanfang. Mit seiner menschenfreundlich-unkonventionellen Art setzt er sich schnell über das anfängliche Misstrauen der Einwohner hinweg. Er wird ins Dorfleben halbwegs integriert, bleibt aber zugleich auf Distanz – als Außenseiter und scharfer Beobachter dieser kleinen Welt, die sich als Mikrokosmos entpuppt, in dem sich die Atmosphäre der Wirtschaftswunderund Restaurationsjahre der Bundesrepublik brennglasartig bündelt.
Natürlich erweist sich die kleine Welt nicht als heil, weil unter ihren spießigen Oberflächen, hinter dem Halbausgesprochenen und ganz Verschwiegenen, die braune Vergangenheit nistet wie eine Untote, die, wird sie angerufen, herumzugeistern beginnt. Hier hat fast jeder den sprichwörtlichen Dreck am Stecken, die sprichwörtliche Leiche im Keller. Aus zahlreichen Andeutungen, Gerüchten, Nachreden und Dorfklatsch entsteht mosaikartig das tiefenscharfe Bild einer Gesellschaft, die ihre Vergangenheit auf sich beruhen lassen will und eben deshalb nicht zur Ruhe kommt.
Walter Kempowski, der lange als nostalgischer Unterhaltungsschriftsteller verkannt wurde, bewies mit diesem autobiografisch grundierten Roman ein weiteres Mal höchst nachdrücklich, dass Idyllen bei ihm nur um den Preis einer selektiven Lektüre zu haben sind, die aus den
Texten liest, was „erbaut“, und das ignoriert, was erschreckt. Das Nette, Pausbäckige, Onkelhafte, das Schwelgen in guten, alten Zeiten, ist bei diesem großen deutschen Erzähler stets ironisch gebrochen und konterkariert vom Grauen des mörderischen 20. Jahrhunderts.
Das Buch Walter Kempowski: Heile Welt (Erstveröffentlichung 1998). Die Kolumne „Ein Jahrhundert – 100 Bücher“erscheint regelmäßig exklusiv in dieser Zeitung. Die Folgen zum Nachlesen unter
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