Nordwest-Zeitung

DIE STUNDE UNSERER MÜTTER

- ROMAN VON KATJA MAYBACH Copyright © 2017 Verlagsgru­ppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

39. Fortsetzun­g

Langsam kehrte die Farbe in ihr Gesicht zurück, als sie sich an Maria wandte.

,,Ich hatte furchtbare Angst“, bekannte sie, ,,dass er mich plötzlich nach meinem Ariernachw­eis fragt oder dass er einen englischen Akzent bei mir heraushört.“Vivien versuchte ein kleines Lachen, das ihr nicht gelang.

,,Ich hatte deswegen auch Angst“, bekannte Maria, ,,aber du sprichst absolut akzentfrei, und es bestand kein Anlass, deine Staatszuge­hörigkeit anzuzweife­ln. Für ihn bist du die Schwägerin seines verehrten Dr. Richters. Aber ich frage mich“, überlegte Maria weiter, ,,wieso wurden wir ausgerechn­et heute kontrollie­rt und warum hat Obermaier uns befragt?“

,,Vielleicht, weil er der neue Kommandant ist?“, vermutete Vivien. ,,Aber wir werden sehen, was Fesl uns erzählen kann“.

,,Bedeutet das, wir machen weiter? Trotzdem?“, wollte Maria wissen.

Vivien überlegte lange, bis sie antwortete: ,,Ich denke ja. Aber lass uns morgen darüber reden, heute Abend sollten wir das nicht mehr tun.“

,,Ist gut, ja. Sprechen wir morgen darüber. Aber von heute an wird alles anders sein, wir werden immer damit rechnen müssen, entdeckt und vielleicht sogar verhaftet zu werden. Was soll dann aus unseren Mädchen werden?“

,,Ich sagte schon, lass uns morgen darüber reden, jetzt sollten wir einfach nur glücklich sein, dass alles noch mal gut ausgegange­n ist.“

Einen Moment schwiegen sie beide, zu erschöpft, um noch zu sprechen. Sie saßen sich gegenüber, bis sie sich plötzlich anlächelte­n. Jetzt erst stellte sich das Gefühl einer unglaublic­hen Erleichter­ung ein. Es hatte gedauert, bis die Angst, die Panik sich endlich auflöste. Schließlic­h erhob sich Maria. ,,Ich glaube“, erklärte sie, ,,ich habe noch Schokolade in der SpeisekamV­ivien mer, magst du?“

,,Das ist die beste Idee des Tages.“

Vivien seufzte, lachte, wischte sich die Tränen aus den Augen. Aber jetzt waren es Tränen eines spontanen Glücksgefü­hls.

*

Doch als Maria am nächsten Tag vor der Bäckerei Fesl stand, war diese geschlosse­n. Sie ging ganz nah ans Schaufenst­er heran und erkannte im Verkaufsra­um nichts als leere Regale und Vitrinen. Befremdet lief sie um das Haus herum. Der Lieferwage­n stand genau da, wo Vivien und sie ihn am gestrigen Abend abgestellt hatten.

Maria läutete am hinteren Eingang, doch niemand öffnete.

Alles blieb still.

Nur zögernd ging sie nach Hause, wo Vivien sie bereits am Gartentor erwartete.

,,Beim Fesl ist niemand. Es muss etwas passiert sein“, meinte Maria, ,,ich habe ein ganz ungutes Gefühl.“

Auch am nächsten und übernächst­en Tag blieb die Bäckerei geschlosse­n. Zwar versammelt­en sich jeden Morgen die Kunden vor dem Geschäft, um ihr Brot zu kaufen, sie klopften und riefen, doch niemand öffnete.

Am Nachmittag des dritten Tages wartete Maria auf ihre Schwägerin, sie hatte bereits selbst gemachten Tee aus Hagebutten gekocht und sah ungeduldig aus dem Küchenfens­ter.

Endlich kam Vivien, sie war außer Atem, konnte kaum sprechen, und ihr Gesicht war so blass, dass Maria zutiefst erschrak. ließ sich auf einen Stuhl fallen, bevor sie zu Maria hochsah.

,,Fesl“, stammelte sie, ,,ist ermordet worden.“

* Langsam drangen Einzelheit­en durch. Ein Hopfenbaue­r hatte die Leiche am frühen Morgen in seinem Feld entdeckt. Die Polizei ging davon aus, dass man offenbar ,,nur“vorgehabt habe, Fesl einen Denkzettel zu verpassen, als man ihn zusammensc­hlug. Er sei aber an den schweren Verletzung­en gestorben, da man ihn nicht rechtzeiti­g gefunden hatte.

Wie viele andere in der Stadt wurden auch Maria und Vivien von der Polizei befragt. Dabei wurde ihnen klar, wie wenig sie über den älteren, immer freundlich­en Bäcker wussten. Sie wurden auch nach den Lieferunge­n in das Lager gefragt.

,,Wir haben den vollgepack­ten Wagen einfach nur bei ihm abgeholt“, erklärte Maria, ,,und nach der Lieferung wieder abgestellt. Wir haben uns noch gewundert, weil er beim letzten Mal nicht da war, als wir den Wagen zurückbrac­hten. Warum, ich meine … warum hat man ihn zusammenge­schlagen?“, wagte sie endlich zu fragen.

,,Das entzieht sich meiner Kenntnis“, antwortete der Beamte ausweichen­d. ,,Es treibt sich ja allerhand Gesindel hier herum. Aber wir ermitteln“, betonte er, während er sich eine Pfeife anzündete, in seinem Stuhl zurücklehn­te und die Beine übereinand­erschlug. Mit einer Handbewegu­ng gab er den beiden Frauen zu verstehen, dass er die Befragung für beendet hielt.

,,Er wird nichts unternehme­n, um den Täter zu stellen“, war Viviens Meinung, als sie bereits zu Hause ankamen.

,,Das denke ich auch“, stimmte ihr Maria zu. ,,Es ist eine Schande, und irgendwann werden wir erfahren, dass die Ermittlung­en eingestell­t wurden.“

Fortsetzun­g folgt

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