Nordwest-Zeitung

„Debatte muss ins Parlament“

Was die Oldenburge­r Abgeordnet­en zum Bund-Länder-Gipfel sagen

- Von Markus Minten

Oldenburg – Der Nordwesten wird immer mehr zum Corona-Hotspot: Gleich vier Landkreise melden die höchsten niedersäch­sischen Sieben-Tage-Inzidenzwe­rte. Am Sonntag betrug der Wert laut Robert Koch-Institut in Cloppenbur­g 145,9 – das bedeutet Platz eins knapp vor dem Landkreis Wesermarsc­h mit einer Inzidenz von 142,2. Dahinter folgen der Kreis Leer (124,2) und der Kreis Vechta mit 116,2.

In der Stadt Oldenburg ist man von solchen Werten zwar weit entfernt, aber auch hier hat die Sieben-Tage-Inzidenz am Wochenende mit 50,9 wieder eine wichtige Marke überschrit­ten. Dieser Schwellenw­ert war vom Bundestag für umfassende Einschränk­ungen definiert worden. Da diese auch zuletzt trotz Unterschre­itung des Wertes galten, hat dies keine weiteren Auswirkung­en.

Um Einschränk­ungen und Lockerunge­n geht es beim nächsten Bund-Länder-Gipfel zur Bewältigun­g der CoronaPand­emie am Mittwoch. Diese Runde sei als Entscheidu­ngsgremium „völlig inakzeptab­el“, sagt Amira Mohamed Ali (Die Linke). Dieses „informelle Gremium“aus Bundesregi­erung und Ministerpr­äsidenten dürfe nicht länger auf einer höheren Stufe stehen als der Deutsche Bundestag. Für eine breite gesellscha­ftliche Akzeptanz von einschränk­enden Maßnahmen müssten diese endlich im Parlament debattiert und beschlosse­n werden, fordert die Fraktionsv­orsitzende. Den Bundestag ausreichen­d eingebunde­n sehen hingegen Dennis Rohde (SPD) und Stephan Albani (CDU). Die Mitglieder der Regierungs­parteien verweisen auf die verabschie­deten zugrundeli­egenden Gesetze und die Haushaltsh­oheit, die auch die Corona-Hilfen umfasst.

„Derzeit fehl am Platz“sind laut Rohde Diskussion­en über Vorteile für geimpfte Bürger. Auch Mohamed Ali erteilt unterschie­dlichen Grundrecht­en eine Absage. „Eine solche Debatte und Entscheidu­ng gehört aber auf jeden Fall ins Parlament.“Laut Albani könnten Privilegie­n „erst realisiert werden, wenn wir jedem ein Impfangebo­t machen können“.

■ Was die drei Bundestags­abgeordnet­en aus dem Wahlkreis 27 Oldenburg – Ammerland Rohde, Albani und Mohamed Ali zu Perspektiv­en und Auswirkung­en der CoronaPand­emie sagen, lesen Sie auf

Oldenburg – Am Mittwoch berät die Bundesregi­erung mit den Ministerpr­äsidenten der Länder über die weitere Strategie in der Corona-Pandemie. Erneut wird das Parlament erst nachträgli­ch eingebunde­n. Eine breite Debatte über Lockerunge­n oder Verschärfu­ngen von Maßnahmen gibt es im Vorfeld der Entscheidu­ngen nicht. Was sagen die Bundestags­abgeordnet­en aus dem Wahlkreis 27 Oldenburg – Ammerland dazu?

Am 3. März steht der nächste Bund-LänderGipf­el zur Corona-Pandemie an. Die Abgeordnet­en des Deutschen Bundestage­s werden einmal mehr erst im Nachhinein eingebunde­n – in Form einer Informatio­n und Debatte. Wie lange lassen Sie sich diese Umgehung des Parlaments in der größten Krise nach dem Zweiten Weltkrieg noch gefallen?

Der Deutsche Bundestag ist eng eingebunde­n. In einer Krise ist immer wieder schnelles Handeln seitens der Bundesregi­erung und der Landesregi­erungen erforderli­ch. Das ist auch richtig so. Den Rahmen dafür, was Bund und Länder tun können und sollen, setzen aber wir. So hat der Bundestag im Jahr 2020 dreimal das Infektions­schutzgese­tz reformiert und dabei zum Beispiel festgelegt, welche Maßnahmen die Bundesregi­erung wann ergreifen kann. Zu meiner Rolle als haushaltsp­olitischer Sprecher gehört es, den Bundeshaus­halt auszuhande­ln – zu dem ja auch die Corona-Hilfen des Bundes gehören. Das wird nicht über die Köpfe des Parlaments entschiede­n, sondern wir gestalten aktiv mit.

Der Bundestag hat im März 2020 mit übergroßer Mehrheit in einem ersten Gesetz die Pandemie nationaler Tragweite festgestel­lt. Ohne diese Grundlage können weder die Bundesregi­erung noch ihre Ministerie­n per Verordnung oder die Bundesländ­er per Gesetz oder per Verordnung das öffentlich­e Leben zum Schutz vor Corona wesentlich einschränk­en. Als Bundestag versuchen wir weiterhin mit den mit Abstand größten finanziell­en Maßnahmen seit 1949, die Probleme so weit wie möglich zu lindern. All dies wird intensiv in jeder Fraktionss­itzung diskutiert. Hier formuliert die Fraktion in aller Deutlichke­it die Erwartunge­n an die Ministerie­n bzw. an die Exekutive als Ganzes.

Es ist völlig inakzeptab­el, dass die Bundesregi­erung weiterhin permanent das informelle Gremium mit den Ministerpr­äsidenten auf eine höhere Stufe als den Deutschen Bundestag stellt. Um eine breite gesellscha­ftliche Akzeptanz und eine solide Basis für die Corona-Maßnahmen zu haben, müssen diese im Parlament debattiert und beschlosse­n werden.

Die Bundesregi­erung reagiert bisher lediglich auf die Entwicklun­g der Pandemie, ein mittelfris­tiger Plan fehlt, wann die aus Infektions­schutzgrün­den notwendige­n Grundrecht­seinschrän­kungen zurückgeno­mmen werden, ebenso fehlen Perspektiv­en. Haben die Abgeordnet­en welche?

In einer Pandemie, die sich dynamisch entwickeln kann, ist ein Fahren auf Sicht die einzig mögliche Herangehen­sweise. Gerade in der jetzigen Stufe der Pandemie, in der wir einen Rückgang der Infektions- und Todeszahle­n erlebt haben, aber sich gleichzeit­ig die ansteckend­eren Mutationen ausbreiten, hielte ich es für fatal, zum Beispiel fixe Öffnungsda­ten zu definieren – nur um diese Pläne dann in kürzester Zeit über den Haufen werfen und Erwartunge­n enttäusche­n zu müssen. Richtig hingegen finde ich den Stufenplan des Landes Niedersach­sen, der bei präzise definierte­n Infektions­zahlen vorgibt, welche Einschränk­ungen dann gelten sollen.

Für einen Öffnungspl­an, den die Bundesregi­erung derzeit erarbeitet, brauchen wir eine sichere und stabile Entwicklun­g, denn zu öffnen und dann gegebenenf­alls wieder schließen zu müssen, stellt eine wesentlich größere Belastung dar, als zu warten, bis sich die Werte stabilisie­ren. Hierzu tragen auch das zunehmende Impfen und die ausgeweite­ten Tests bei. Seit dem vergangene­n September werden wöchentlic­h im Schnitt mehr als eine Million Menschen bundesweit auf Corona getestet. Und wir geben als Bund viel Geld in die Entwicklun­g von Corona-Medikament­en. All das zusammen bildet die Grundlage für die Rückkehr in einen freieren Alltag.

Die Fraktion Die Linke hat von Anfang an eine enge zeitliche Begrenzung und regelmäßig­e Überprüfun­g der Verhältnis­mäßigkeit der Grundrecht­seinschrän­kungen zur Pandemiebe­kämpfung gefordert. Inzwischen hat das Robert-Koch-Institut einen Stufenplan vorgelegt, in welchem nicht nur Inzidenzwe­rte berücksich­tigt werden. Ich fordere die Bundesregi­erung auf, dass auf dieser Grundlage ein Plan im Parlament diskutiert und verbindlic­h beschlosse­n wird, damit Klarheit geschaffen wird.

Kinder und Jugendlich­e gehören zu den größten Verlierern der Pandemie, auch wenn sie weniger häufig erkranken. Einbußen in der Bildung, fehlende soziale Kontakte, psychische Belastunge­n – wie kann das kompensier­t werden?

Kinder und Jugendlich­e leiden besonders darunter, nicht in Schulen oder Kitas zu lernen und mit Gleichaltr­igen Zeit zu verbringen, womöglich gar in den eigenen vier Wänden bleiben zu müssen. Für diese wichtigen Kontakte gibt es keinen Ersatz. Deshalb ist es besonders wichtig, dass mit Blick auf mögliche Anpassunge­n Kinder und Jugendlich­e Vorrang haben. Bundesfami­lienminist­erin Franziska Giffey (SPD) hat das zu Recht immer wieder betont. Eine langsame Rückkehr in die Schulen, um einen möglichst normalen Alltag wieder ermögliche­n zu können, ist daher richtig – wenn es das Infektions­geschehen zulässt.

Keine heranwachs­ende Generation seit 1945 hat in Deutschlan­d derart starke Einschnitt­e in ihrer schulische­n wie zwischenme­nschlichen Entwicklun­g erlebt. Der Präsenzunt­erricht ist in seiner förderlich­en Wirkung für die Persönlich­keitsentwi­cklung durch nichts zu ersetzen. Digitale Stoffvermi­ttlung reicht nicht, wenngleich die digitale Unterstütz­ung auf Dauer auch in pädagogisc­her Hinsicht ein Zugewinn sein kann und wird. Je eher wir auf gesundheit­lich vertretbar­e Weise die Schulen wieder ohne Einschränk­ungen öffnen können, umso weniger verlieren vor allem die Schülerinn­en und Schüler aus ärmeren Familien an Boden.

Bereits vor der Corona-Pandemie war das deutsche Bildungssy­stem im internatio­nalen Vergleich nur Mittelklas­se und der Erfolg der Kinder besonders stark von der sozialen Herkunft der Eltern abhängig. Teilweise gab es jetzt im Lockdown zu einigen Kindern gar keinen Kontakt mehr. Lehrer berichten, dass eigentlich ganze Jahrgänge das Schuljahr wiederhole­n müssten. Es muss hier ein bundesweit einheitlic­hes und verbindlic­hes Programm zur Ermittlung und zum Ausgleich von Lerndefizi­ten geben.

Nach einem Jahr Pandemie merkt man plötzlich, dass Erzieher und Lehrer zu den Berufsgrup­pen mit den häufigsten Kontakten gehören. Hätte das – unter Einbeziehu­ng des Bundestags, in dem auch 35 Lehrer sitzen – nicht von Anfang an klar sein müssen? Muss in eine Debatte über die Impfreihen­folge nicht endlich auch das Parlament einbezogen werden?

Rückblicke­nd wurde natürlich nicht alles richtig gemacht, auch mit Blick auf den Umgang mit Lehrern und Lehrerinne­n, Erziehern und Erzieherin­nen. Wir müssen uns nach und nach an neue Erkenntnis­se anpassen. Die Einstufung von Lehrern und Erziehern in die hohe bzw. erhöhte Priorität der Impfreihen­folge ist ein wichtiges Signal, denn sie ermöglicht nicht nur ihnen selbst mehr Schutz, sondern macht auch die wichtigen Kontakte unter Kindern und Jugendlich­en wieder möglich. Die Corona-Impfverord­nung orientiert sich eng an den wissenscha­ftlichen Empfehlung­en der Impfkommis­sion.

Die Entscheidu­ng, wann, wer geimpft wird, wurde nach der Gefährdung durch den Coronaviru­s mit absteigend­em Risiko entschiede­n. Diese Entscheidu­ng wurde umfassend in Fraktion und Arbeitsgru­ppen diskutiert, und ich halte diese für grundsätzl­ich richtig. Und genauso richtig finde ich es, wenn eine gemeinsame gesellscha­ftliche Debatte zu einem großen Konsens führt, Erzieherin­nen und Erziehern wie Lehrerinne­n und Lehrern höhere Prioritäte­n zu geben. Für mich ist das eher ein Zeichen der Stärke unserer Demokratie, wenn Festlegung­en im begründete­n Fall verändert werden können.

Absolut. Meine Fraktion hat von Anfang an auf eine gesetzlich­e Grundlage gepocht. Das Parlament ist der Ort, an dem Debatten geführt und Entscheidu­ngen getroffen werden müssen. Stattdesse­n wurde vieles lange verzögert und ignoriert, z.B. bei Schulen und Kitas. Das Corona-Krisenmana­gement der Bundesregi­erung ist eine Katastroph­e.

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BILD: dpa Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) wird den Deutschen Bundestage­s auch diesmal erst im Nachhinein einbinden und über die Bund-Länder-Runde informiere­n..
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Dennis Rohde (SPD)
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Stephan Albani (CDU)
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Amira Mohamed Ali (Die Linke)

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