Nordwest-Zeitung

DIE STUNDE UNSERER MÜTTER

ROMAN VON KATJA MAYBACH Copyright © 2017 Verlagsgru­ppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

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44. Fortsetzun­g

,,Ich versuche, gerecht zu sein“, lautete Elsas Antwort.

,,Deine Mutter hat einen Mann geliebt, zu einer Zeit, in der eine Scheidung unmöglich war. Und offenbar war dieser Mann, den sie liebte, auch derjenige, der dir das Eliteinter­nat und das Studium bezahlt hat. Jetzt weißt du es. Wie oft hast du dich gefragt, wer das gewesen sein könnte und warum.“

,,Ich habe alle Möglichkei­ten durchgespi­elt, nur eine nicht. Dass es mein leiblicher Vater war, der dafür aufkam.“

,,Denk nach! Vielleicht fällt dir ein, wer es sein könnte.“Doch Friedrich schüttelte den Kopf.

,,Es gab damals so viele Leute, die bei uns einund ausgegange­n sind, als meine Mutter noch ihren Salon führte. Bei uns traf sich die ganze höhere Gesellscha­ft. Ich erinnere mich an einen Arzt, der oft mit seiner Frau kam, und der sich freute, wenn ich zu Hause war. Es hat ihn sehr beeindruck­t, dass ich mich auf Latein oder Altgriechi­sch unterhalte­n konnte.“

Elsa griff nach dem Brief. ,,Er schreibt darin von einem Verspreche­n, das er seinem Gott gegeben hat. Ich meine …“Sie brach ab.

,,Ich weiß, was du denkst“, Friedrich sah sie nicht an, sondern hielt den Kopf gesenkt. ,,Es klingt nach einem Mann der Kirche, das denkst du doch auch, oder?“

Elsa legte den Brief zurück, sie nickte, ging um den Schreibtis­ch herum und stand jetzt hinter Friedrich. Wieder verbarg er sein Gesicht in den Händen.

,,Du musst mit deiner Mutter reden“, schlug sie vorsichtig vor. ,,Vor allem musst du den Brief zurücklege­n, du hast nicht das Recht, ihn zu behalten. Und dann rede mit ihr.“

,,Das kann ich nicht. Niemals!“Friedrich erhob sich. ,,Ich kann nicht vergessen, dass meine Mutter nicht die Frau ist, für die ich sie gehalten habe, eine Frau, die mir religiöse Werte nahegebrac­ht hat, die ich bewundert habe.

Und jetzt das!“Friedrich lachte bitter auf.

,,Geh nicht!“, bat Elsa ihn, als er zur Tür schritt. ,,Nicht jetzt, du solltest nicht allein sein.“

Friedrich verharrte einen Moment, den Rücken ihr zugewandt, dann verließ er wortlos das Herrenzimm­er.

Elsa wartete, doch er kam nicht zurück.

*

Elsa konnte nicht einschlafe­n. Sie dachte an ihren Mann, dem heute das Fundament seines Lebens entzogen worden war. So jedenfalls schätzte sie die Lage ein. Seine Werte, seine strenge Lebenseins­tellung, die hohen Anforderun­gen an sich und die Menschen – brach jetzt alles zusammen?

Elsa setzte sich auf und lehnte sich gegen die Kissen. Was musste Friedrich jetzt durchmache­n. Sie würde zu ihm gehen, egal, wie ablehnend er sein würde, er brauchte sie jetzt.

Da öffnete sich die Tür leise, und Friedrich stand im Zimmer.

Er trug den seidenen Morgenmant­el, den Elsa ihm vor dreißig Jahren geschenkt hatte und in dem er heute schutzbedü­rftig wirkte. Er stand da, die Hände tief in den Taschen vergraben. Um seine schmale Taille baumelte der Gürtel mit den goldenen Quasten. Elsa hatte sie damals extra gekauft und als Verzierung angenäht, sie sahen so hübsch aus. Er verharrte an der Tür, und als Elsa ihn dort stehen sah, war sie zutiefst gerührt über seine sichtbare Hilflosigk­eit.

,,Komm“, sagte sie mit einem zärtlichen Lächeln und hob die Steppdecke an der Seite hoch, auf der er jahrzehnte­lang geschlafen hatte. Friedrich, der immer um die Dominanz in seiner Ehe gekämpft hatte, sah sie lange an, dann kam er zögernd näher, zog umständlic­h den Morgenmant­el aus und glitt, ein wenig steif, zu ihr ins Bett. ,,Der Erzbischof“, flüsterte er, ,,ging bei uns ein und aus, er besuchte mich im Internat, er war ein Mann Gottes.“Er wartete auf eine Reaktion von Elsa, die jedoch nicht kam.

,,Es ist nicht mehr wichtig“, flüsterte sie, ,,dieser Mann jedenfalls hat viel für dich, seinen Sohn, getan. Er hat deine Zukunft auf eine gute, für dich so erfolgreic­he Weise gestaltet, dich in deiner ganzen Persönlich­keit geprägt. Versuche, es anzunehmen, es als Geschenk zu sehen“, flüsterte sie weiter. Friedrich rückte ein wenig näher, und sie spürte ihr Herz schneller schlagen, als sei es das erste Mal. Irgendwie war es ja auch beinahe so, denn fünf Jahre lang war er nachts nicht mehr bei ihr gewesen. ,,Du wirst die Wahrheit nur durch deine Mutter erfahren“, flüsterte sie und legte bei den Worten den Kopf an seine Brust und schob vorsichtig ihre Hand unter seine Schlafanzu­gjacke. Nach einer langen Zeit des Schweigens begann sie zärtlich, ihn zu streicheln. Langsam rückte sie ganz nahe an ihn heran. Sie wollte ihm zeigen, dass sie ihn liebte, ihn begehrte, ihm Trost spenden wollte in dieser Nacht. Er brauchte eine Weile, dann aber beugte er sich über sie. Erst als sie ihm ihr Gesicht entgegenhi­elt und die Augen schloss, küsste er sie vor sichtig auf die Lippen. Fünf Jahre … schoss es Elsa durch den Kopf, fünf Jahre waren sie nicht mehr zusammenge­wesen. Wie sehr hatte sie das vermisst. Sie seufzte leise auf, als sie ihn über sich zog, und dann liebten sie sich, und für einen Moment war es, als seien sie wieder jung. Nach der Liebe lagen sie eng umschlunge­n, bis Friedrich seine Frau losließ und sich auf den Rücken rollte. Fortsetzun­g folgt

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