Kultur ist mehr als ein Herzenswärmer
Nach der Pandemie Rückkehr zur Normalität? Über die Kunst, ihr zu widerstehen
Todestag: Nancy Reagan (19212016/Bild), amerikanische Schauspielerin und ehemalige „First Lady“der USA
Geburtstage: David Gilmour (1946), britischer Gitarrist, Sänger und Songschreiber der Rockgruppe Pink Floyd; Peter Brötzmann (1941), deutscher Jazzmusiker und Saxofonist
Namenstag:
Fridolin, Mechthild
Krisen sind bekanntlich Zeiten beschleunigten Lernens. Die Pandemie konfrontiert uns im immer kürzeren Takt mit ganz unbekannten Herausforderungen und gravierenden Problemen, die unter Mobilisierung aller Kräfte zu lösen sind. Bei diesen Anstrengungen nicht nur von Staat und Gesellschaft, sondern jedes Einzelnen machen wir Erfahrungen, die vor Augen führen, welche Lebenspraktiken als fragwürdig auf den Prüfstand gehören.
Deshalb geht der verständliche, immer nachdrücklicher geäußerte Wunsch nach Rückkehr zur Normalität in eine Richtung, die blind macht für mögliche ganz neue Sichtund Handlungsweisen. Denn wir haben die historisch selten gegebene Chance, vergangene Fehlentwicklungen vermeidend, unsere Zukunft durch intelligente Neujustierungen besser zu gestalten.
Diese Forderung einer Revision gilt gerade auch für jenen Bereich, der pauschalisierend Kultur genannt wird. Den Fokus auf Kunst als Lebenselement von Kultur zu legen, ist auch deshalb vordringlich, weil viele Personen, die für Kultur zuständig sind, zu Recht beklagen, dass ihre Belange beim Pandemie-Krisenmanagement eine nur marginale Rolle spielen.
Genau das ist das treibende Motiv für die Initiative „Aufstehen für die Kunst“. So von den Verantwortlichen in den Theatern, Opernhäusern, Museen, Filmtheatern und Bibliotheken ironisiert. Die Perspektive von Kulturförderung als Wirtschaftsförderung ist generell verkürzt.
Kunst muss und will mehr sein als Standortfaktor. Zwar ist Kunst von Institutionen der Kulturförderung und den viel zu niedrigen, selten über die drei Prozent hinausgehenden staatlichen Mitteln abhängig. Aber Kunst wahrt gegenüber Betrieb, Verwaltung und allem Offiziellen kritisch Distanz.
Mit ihrer Funktionslosigkeit ist Kunst der Raum für das Experimentelle, sie ist das Unbotmäßige. Als solches ist sie alles andere als Dienst am Kunden. Sie ist keineswegs, frei nach Schillers Wallenstein, das Heitere, das den Ernst des Lebens erträglich machen soll.
Insofern darf Kunst auf keinen Fall mit jenem Ge
Stefan Müller-Doohm.
Prof. Dr. @ Den Autor erreichen Sie unter forum@infoautor.de
begrüßenswert sie ist, bleibt doch zu fragen: Für welche Kunst sollten wir initiativ werden? Es kann nicht um die gönnerhafte Wertschätzung der Kunst als Teil der sogenannten Unterhaltungsindustrie gehen, vornehm Kreativwirtschaft genannt.
Mehr als Standortfaktor
Zu Recht wird diese Einstellung des Wirtschaftsministeriums gegenüber den, wie es dort hieß, „Lebenskünstlern“ misch in einen Topf geworfen werden, was pauschalisierend unter Clubkultur, Konsumkultur, Unternehmenskultur, Reisekultur etc. aufgeführt wird.
Statt bloß darüber zu klagen, so berechtigt das auch ist, dass „Global players“wie Lufthansa und TUI mit ihren Kreuzfahrtschiffen durch Steuermillionen als vorgeblich systemrelevant gerettet werden, muss jetzt im Hinblick auf die Kunst ein wahrhaftiges Kunststück gelingen: Künstler und ihre performativen Orte wie Galerien oder Konzerthäuser müssen als systemrelevant anerkannt werden, ohne dieses eindimensionale Kriterium der Systemrelevanz sich zu eigen zu machen.
Denn der Geltungsgrund von Kunst ist ihre Autonomie. Nur als autonome können Kunstwerke als geistige Gebilde ihre imaginäre Kraft entfalten und so Spiegelbilder des guten und schlechten Zustandes des Gemeinwesens sein. Es ist paradox: Die als zweckfrei geltende Kunst muss in der Krise des Lockdowns im gleichen Maße alimentiert werden wie beispielsweise das Bildungssystem und Gesundheitswesen.
Kein Sonderbereich
Denn es wäre fatal, die Sphäre der Kunst unter dem Gesichtspunkt „entbehrlich oder unentbehrlich“als Sonderbereich zu behandeln und so zu isolieren und zu neutralisieren. Wenn die auch vom Kulturrat erwarteten Förderungsprogramme zur Öffnung von Bühnen, Museen, Galerien und Kunstvereinen ganz den Eigensinn von Kunst und Kultur respektieren, steht die Förderung durchaus im Einklang mit dem Selbstanspruch prinzipiell ungebundener Kunst, ihrer Einzigartigkeit.