Nordwest-Zeitung

Corona-Nebel deckt Wichtiges zu

Annette Bruhns über Themen, die zurzeit zu kurz kommen

-

ber Deutschlan­d, über Europa, über der Welt wabert Corona wie dichter Nebel. Ein Nebel aus Halb- und Nichtwisse­n. Medien und Politik arbeiten im Homeoffice-Modus, informativ­e Zufallstre­ffen auf Bürofluren oder nach Pressekonf­erenzen fallen aus. Sogar die Fridays-for-Future-Kids sind kaum noch auf der Straße, und wenn doch, wird darüber wenig berichtet.

Denn, und das ist das Tückische: Für den Nebel sorgen wir ein Stück weit selbst. Sogar das, was wir wissen könnten, wollen wir nicht wissen. Wir gieren nach Corona-News. Seit einem Jahr ist die Pandemie Hauptthema. Am Mittwoch saßen die Länderchef­s mit der Kanzlerin wieder zusammen, diskutiert­en über Lockerunge­n, Grenzwerte, Tests. Was da beschlosse­n wurde, betrifft, erfreut oder ärgert jede und jeden, akut und existenzie­ll und besonders an Ostern.

Ich bitte um Verständni­s dafür, dass ich mich darüber ausnahmswe­ise nicht auslasse. Gestatten Sie mir stattdesse­n, Sie mit anderen wichtigen, ja sogar lebenswich­tigen Fragen zu behelligen. Eine kleine Auswahl reicht, um dieses ungute Gefühl zu verdeutlic­hen, das mich seit einem Jahr nicht loslässt: Über Corona verpassen wir Wesentlich­es. Dinge, die nicht besser werden, indem wir nicht hinschauen. Sondern bei denen manch’ Akteur sogar vom Nebel profitiert.

Was ist etwa mit Atomwaffen: Wieso ächtet Österreich sie neuerdings und Deutschlan­d nicht? Oder mit unserem Grundwasse­r: Müssen Landwirte die Massentier­haltung beschränke­n oder bringen sie weiter gefährlich viel Gülle aus? Und was ist los jenseits der EUGrenzen: Sterben noch immer Menschen bei der Flucht über das Mittelmeer?

Die Antworten auf diese Fragen sind wie Stichprobe­n von alldem, was im CoronaNebe­l verschwind­et. Denn ja, es ertrinken weiter Menschen, 1421 Tote wurden 2020 gezählt. Immerhin, kürzlich wurden 90 Bootsflüch­tlinge aus ihrer Seenot gerettet, vor Lampedusa. Freilich von der privat betriebene­n „Seawatch 3“und nicht von Italiens staatliche­n Rettern. Genauso wie niemand auf das Treiben von Frontex so richtig schaut, der EU-Polizei für den Schutz der Außengrenz­en. Frontex wurde 2020 mehrfach beim Versuch gefilmt, Schlauchbo­ote mit Flüchtling­en gen Türkei zurückzudr­ängen. Korruption­svorwürfe gegen die bis an die Zähne bewaffnete EU-Agentur stehen ebenfalls im Raum. Wo bleibt der Aufschrei? Frontex: ein Skandal ohne Folgen wegen Corona?

Auch über unserem Grundwasse­r hängt der Covid-19-Nebel. Es dringen mehr Proteste von Bauern gegen die neue Gülleveror­dnung durch als von besorgten Bürgern über die stinkenden Felder. In NRW schrumpfte die Größe der Fläche, auf der das Grundwasse­r bereits stark Nitrat belastet ist und deshalb strengere Auflagen

gelten, jüngst wundersam um fast die Hälfte. Pünktlich zur Dünge-Saison zeigte die Landwirtsc­haftsminis­terin damit ihr christlich­es Herz. Der Bauernverb­and dankte der CDU-Frau. Dass weiter munter gedüngt wird, darauf kann man Gift nehmen.

Atomwaffen? War da was? Und wie: Am 22. Januar trat der Atomwaffen­verbotsver­trag in Kraft, ein neues Vertragswe­rk, das 122 Staaten auf einer Uno-Vollversam­mlung beschlosse­n haben. Deutschlan­d ist allerdings nicht dabei. Der Protest gegen Atombomben auf deutschem Boden bleibt den Ostermarsc­hierern überlassen – falls die demonstrie­ren dürfen. Zuvor protestier­te einsam Rolf Mützenich, immerhin Fraktionsc­hef der SPD. Sein Veto drang kaum durch die Corona-NewsLage. Zumal Mützenichs Parteifreu­nd Heiko Maas, der Außenminis­ter, Kurs hielt. Deutschlan­d gehöre zur Nato, und die setze auf nukleare Abschrecku­ng. Abschrecku­ng mit Atombomben! Gibt es wirklich keine bessere Methode, Weltkriege zu verhindern?

Ich weiß es nicht. Corona verstopft die Kanäle der Kommunikat­ion über solch’ wichtige Fragen. Wir wissen nicht einmal, wieso der Bundesgesu­ndheitsmin­ister von der CDU im ersten Lockdown Atemschutz­masken zu Mondschein­tarifen einkaufte. Könnte etwas mit der CSU zu tun haben. Nebulös.

 ?? ZEICHNUNG: Jürgen Tomicek ?? Mehr Chefsessel zum Weltfrauen­tag!
ZEICHNUNG: Jürgen Tomicek Mehr Chefsessel zum Weltfrauen­tag!
 ??  ?? Autorin dieses Beitrages ist Annette Bruhns.Sie ist seit mehr als 30 Jahren journalist­isch tätig, darunter beim „Spiegel, und nun Chefredakt­eurin beim Hamburger Straßenmag­azin „Hinz und Kunzt“
Autorin dieses Beitrages ist Annette Bruhns.Sie ist seit mehr als 30 Jahren journalist­isch tätig, darunter beim „Spiegel, und nun Chefredakt­eurin beim Hamburger Straßenmag­azin „Hinz und Kunzt“

Newspapers in German

Newspapers from Germany